Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen

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untersagte, zu ihm zu gehen, wann ich wollte, und das war so gut wie jeden Abend. Ich klopfte an, er sagte »herein«, und ich ging hinein und starrte ihn an, bis er von seiner Zeitung aufschaute und zu dem Stuhl hinübernickte, für den Platz neben dem Sessel war, in dem er selbst saß. Dann las er noch ein oder zwei Minuten, während ich mit den Händen zwischen den Knien dasaß und seine Bücher ansah, den Beutel mit den Stahlkugeln, der an einem Haken in der Wand hing, das Schachbrett, bis er mit Lesen fertig war und fragte, ob ich meine Hausaufgaben gemacht hätte.

      »Ja«, sagte ich.

      »Ich habe nie Hausaufgaben gemacht«, sagte er.

      Das beeindruckte mich nicht sonderlich. Ich hatte eine Menge Freunde, die keine Aufgaben machten, und das brachte ihnen nur Ärger ein; Wörter und Zahlen waren außerdem witzig, und das sah er mir wohl an.

      »Du bist ein komischer Vogel«, sagte er.

      »Du auch«, sagte ich. »Können wir durchs Mikroskop schauen?«

      »Ja, ja, nimm es nur heraus.«

      Ich nahm das Mikroskop aus dem Kasten und brachte Spiegel und Gläser an, und wir betrachteten die Oberfläche eines Kronenstückes; sie sah unmöglich aus, kreuz und quer Kratzer so tief wie Gebirgsschluchten, alles, wofür man mit bloßem Auge blind ist.

      »Weißt du, was das da ist?«, fragte Kristian.

      »Nein.«

      »Das ist die Geschichte dieser Münze, schau her, die Jahreszahl 1948; seit damals ist sie durch Tausende von Händen gegangen, hat in Spardosen und Kassen und Taschen und Automaten geklappert und ist vielleicht aus einem Taxi gefallen und durch die Storgata getanzt, in einer Nacht, voller Regen, und ein Bus hat sie überfahren, ehe ein kleines Mädchen sie am nächsten Morgen auf dem Schulweg gefunden und in die Sparbüchse gesteckt hat. Das alles sind Spuren, es ist die Geschichte der Münze, weißt du, was Geschichte ist, Junge? Geschichte ist Abnutzung. Sieh zum Beispiel her, schau mir in die Visage, die ist voller Falten, obwohl ich erst achtunddreißig bin, und sieh dir deine eigene an, glatt wie ein Kinderpopo, und der Unterschied zwischen uns besteht nur aus Abnutzung, knapp dreißig Jahren Abnutzung, wie der Unterschied zwischen dieser Münze dort und einer Krone, die gestern erst geprägt worden ist, wie diese hier, zum Beispiel«, er zog eine ganz neue Münze hervor, mit einem Pferd, wo auf den früheren die Krone gewesen war, und die durfte ich unter das Mikroskop legen. Und sie war wirklich so glatt wie ein Meer ohne Wind. Bis wir das Objektiv austauschten und sie noch genauer ansahen, nun stellte es sich heraus, dass sogar die Oberfläche einer neuen Münze matt ist, bedeckt von Milliarden von winzigen Partikeln, die Kristian »kristalline Späne« nannte und die von der Abnutzung entfernt werden sollten – eine neue Münze hat mit anderen Worten ihren glattesten Zustand noch nicht erreicht, mit anderen Worten, ihren Höhepunkt als Münze, wenn sie vom Prägestock ausgespuckt wird, sondern dann, wenn so in etwa der sechsundzwanzigste oder dreiundvierzigste Besitzer sie aus der Tasche fischt und damit bei Åsbua in Bjerke für eine Wurst mit Fladen und Senf bezahlt – das ist der Höhepunkt in der Geschichte der Münze, wenn sie aus der Hand eines hungrigen Kunden gleitet und auf dem Tresen eines satten Würstchenverkäufers landet. Von nun an geht es bergab mit ihr, unerbittlich, auch wenn es seine Zeit dauert, hast du je eine total verschlissene Münze gesehen?

      »Nein.«

      »Dann geh ins Wohnzimmer und hol den Lexikonband mit dem S auf dem Rücken.«

      Ich gehorchte und wir schlugen König Sverre nach, ein Höhepunkt an sich, was die Abnutzung unseres Landes angeht, aber Sverre war nicht nur Krieger und König gewesen und hatte die Nation vollständig auf den Kopf gestellt, er hatte auch Münzen prägen lassen, die im Lexikon abgebildet waren. Darauf stand Suerus Magnus Rex, was Latein war; sie waren hauchdünn, so schimmernd zart, dass, wenn man sie in den Himmel hielt, die Sonne hindurchscheinen könnte. Aber hier war natürlich auch die Rede von nicht weniger als achthundert Jahren Abnutzung, wir können also ganz beruhigt sein, wenn es um Münzen geht, meine ich, endete Kristian überaus vielsagend.

      Ich blickte ihn verständnislos an.

      »Und wann würdest du, nachdem du das hier gehört hast«, sagte er philosophisch, »den Höhepunkt für einen Menschen ansetzen?«

      Ich überlegte.

      »In deinem Alter vielleicht«, sagte er mit listigem Lächeln.

      Am selben Abend ging ich mit dem Lexikon ins Bett und las den ganzen Artikel über König Sverre, und obwohl es dort etliche Wörter gab, die nicht einmal Kristian benutzte, war mir doch klar, dass er vollkommen recht hatte.

      5

      Aber Mutter gefielen meine Besuche im Untermieterzimmer nicht. Ich solle den Untermieter nicht stören, hieß es, und außerdem gefiel es ihr nicht, dass ich so lange dort drinnen blieb, wenn ich angeklopft und wenn er dann »herein« gesagt hatte – es kam vor, dass er nicht »herein«, sagte, und dann ging ich nicht hinein. Vor allem war es schlimm, dass ich mit allen möglichen Informationen wieder herauskam, über die Durchschnittstemperatur auf Spitzbergen, darüber, dass die norwegische Bevölkerung pro Jahr drei komma drei Millionen Liter Schnaps trank, aber nicht einmal ein Zehntel so viel Rotwein pichelte, denn das sei nichts, womit man den Kopf eines kleinen Kindes vollstopft.

      »Ich bin kein kleines Kind.«

      Außerdem konnte ich erzählen, dass das, was wir immer Plockwurst genannt hatten, eigentlich Salami hieß, und dass auf Gerhardsen kein Verlass war, selbst wenn wir bei jeder Wahl für ihn stimmten. Also wurde diesen Abendbesuchen ein Ende gesetzt. Ich durfte nicht einmal hineingehen und das Mikroskop zurückbringen, das ich hatte leihen dürfen, um die Maschen in Mutters Nylonstrümpfen zu betrachten. Das übernahm sie. Aber als sie wieder herauskam, waren ihre Wangen rot und sie wollte wissen, ob der Untermieter immer seine Unterwäsche zum Trocknen über die Gardinenstange hängte.

      Das wusste ich nun wirklich nicht. Doch sie raffte sich zu einem neuen Vorstoß auf und lief wieder hinein und sagte, das wolle sie sich verbeten haben, Unterwäsche im Fenster, sichtbar für die ganze Wohnungsgenossenschaft.

      »Dann nicht«, sagte Kristian gleichgültig. »Aber wo soll ich sie dann trocknen? Und waschen?«

      Und so bekam er einen eigenen Korb für seine schmutzige Wäsche, den er dann in die Waschküche tragen konnte, wenn Mutter Wäsche hatte, wo er die Wäsche in die Trommel warf, während sie dieselbe für ihn aufhängte, in der Trockenkammer. Mir war klar, dass es bei dieser Abmachung darum ging, dass sie seine schmutzige Wäsche nicht anfassen wollte. Das war auch Kristian klar. Und zwischen uns gab es in den folgenden Wochen keinen besonderen Kontakt.

      Aber in diesem Herbst kam es zum Verkaufsstreik. Omar Hansen hatte so gut wie keine Waren mehr, und Mutter verbrachte unendlich viel Zeit auf dem Weg vom Schuhgeschäft nach Hause damit, alles aufzutreiben, was wir brauchten. Eines Nachmittags jedoch stand in der Diele ein großer Karton, mit Margarine, Brot, Kartoffeln, Fischklößen, einer Tube Kaviar, Leberwurst, zwei Flaschen Limonade, drei Tafeln Freia Milchschokolade und ganz unten zwei Hefte Wilder Westen, für mich.

      »Das hättest du nicht tun dürfen«, sagte Mutter.

      »Warum nicht?«, fragte Kristian, der wie Frank »Beziehungen« hatte, bei der Gewerkschaft, sagte er, und Mutter hatte keine, im Gegenteil, es war ihre Gewerkschaft, die streikte. »Dann kannst du die doch zumindest für mich im Kühlschrank aufbewahren?«

      Es war ungefähr so wie mit dem Fernseher, vor dem Mutter und ich jetzt jeden Abend saßen, autorisiert durch die Tatsache, dass sie ihn angemeldet hatte, auf ihren Namen. Kristian

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