Palast aus Gold und Tränen. Christian Handel

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Palast aus Gold und Tränen - Christian Handel

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sie ganz verschwunden. Mit gezogenem Silberdolch in der Hand folgte ich ihr. Wäre mir klar gewesen, was dann geschehen würde, hätte ich statt meiner Waffe besser ihre Hand gehalten.

      In meinem Geburtsland bezeichnete man Feen als das Volk unter dem Hügel. Deshalb hatte ich mir die Anderswelt immer wie eine riesige Höhle vorgestellt, deren Wände aus wurzeldurchzogener Erde, Flechten und Moos bestanden. Nachdem die Felsen mich verschluckt hatten, betrat ich jedoch ein Plateau, von dem aus ich in ein dicht bewaldetes Tal blicken konnte. Üppig belaubte Bäume strebten dem Himmel entgegen. Wenn ich mich hinkniete und über den Felsrand nach unten griff, konnte ich fast ihre Kronen berühren. Das Blattwerk war jedoch nicht einfach nur grün wie bei den Bäumen in unserer Welt. Zwischen gewöhnlichen Eschen und Tannen, Buchen und Eichen mischten sich Bäume, deren Laubkleider dunkelrot, silbern und sogar golden leuchteten. Der Wind, der durch sie hindurchfuhr, ließ die Blätter nicht bloß rascheln, sondern auch klirren. Dutzende kristallklare Bachläufe schlängelten sich durch den Wald und in der Luft hing der Geruch von Glockenblumen.

      Erst nach einem Augenblick begriff ich, dass ich allein war.

      »Rose?«, rief ich leise. Meine Stimme verhallte ungehört. »Rose?«

      Ich blickte mich nach allen Seiten um, doch da war niemand. Als ich mich umdrehte, um durch das Feentor zurückzugehen, sah ich, dass der Spalt im Felsen sich geschlossen hatte.

      »Na großartig.«

      Was hatte Irina uns geraten? Das Tor kann euch an viele Orte auf dieser Welt führen. Deshalb ist es so wichtig, dass ihr euch auf euer Ziel konzentriert.

      »Ins Zarenreich«, flüsterte ich, während ich mich anschickte, einem schmalen Pfad zu folgen, der sich ins Tal hinunterwand. »Ich will ins Zarenreich.«

      Hoffentlich hatte Rose dasselbe getan.

      Ob sie schon dort angekommen war?

      Meine Unterarme begannen zu kribbeln. Regten sich die Zeichen oder war das Gefühl nur meiner Aufregung geschuldet?

      Bleib ruhig, mahnte ich mich, weil ich bemerkte, dass mein Puls sich beschleunigte. Die Symbole auf meiner Haut kribbelten eindeutig. Ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um nicht an ihnen zu kratzen.

      Mein Weg ins Tal führte an einem kleinen Wasserfall vorbei. Gischt setzte sich wie Tautropfen auf meine Haut. Mit jedem Schritt verstärkte sich der Geruch nach Glockenblumen.

      Ins Zarenreich, beschwor ich meinen Wunsch innerlich wieder und wieder. Nichts geschah.

      Plötzlich hörte ich ein Rascheln, als würde man schnell durch die Seiten eines Buches blättern. Die Temperatur sank schlagartig und die Tropfen auf meiner Haut gefroren zu Eis.

      Ich verharrte in der Bewegung und packte den Silberdolch fester. War dies normal? Irina hatte nichts dergleichen erwähnt.

      Die Male des Hexenfluchs begannen zu brennen. Ich ballte die Finger meiner linken Hand zur Faust, ignorierte das Gefühl und beschleunigte meine Schritte.

      »Ich muss ins Zarenreich«, sagte ich erneut.

      »Wo bist du?«, hörte ich plötzlich den Ruf einer Frau. Es war nicht Rose’ Stimme, aber ich kannte sie. »Wo versteckst du dich?« Die Frau klang sanft und freundlich.

      Margarete, schoss es mir durch den Kopf. Natürlich sagte ich nichts. Die Stimme klang älter als das Mädchen aus meinen Visionen. Sie klang wie die der jungen Frau, zu der Margarete herangewachsen wäre. Hätte die Kindsmörderin sie nicht getötet. Hätte sie nicht Margaretes Körper gestohlen.

      Ich wusste, wer mich rief. Entschlossen reckte ich mein Kinn vor. Vielleicht mussten Rose und ich uns gar nicht bis ins Zarenreich durchkämpfen. Vielleicht konnte ich all das, was mich umtrieb – der Fluch, die Kindsmörderin, Rache für Hans und Margarete –, bereits hier und jetzt erledigen.

      Die Haut an meinen Unterarmen brannte inzwischen, als hätte ich sie in den Bau von Feuerameisen gestoßen. Die immer stärker werdende Kälte setzte mir zusätzlich zu.

      »Du hast etwas, das mir gehört!« Mit einem Mal war die Stimme nicht lockend und sanft, sondern schneidend scharf wie der Winter.

      Rose, rief ich stumm. Ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen.

      Die Hexe würde sich nicht einfach einen Dolch ins Herz stechen lassen. Ich bezweifelte ohnehin, dass sie eines besaß. Wenn ich ihr nun entgegentrat, wie konnte ich sie besiegen?

      Für gewöhnlich versuchten Rose und ich, so viel wie möglich über unsere Gegner in Erfahrung zu bringen. Welche Schwächen besaßen sie? Wie äußerten sich ihre Stärken? Wie konnte man sie in eine Falle locken?

      »Bring mir das Buch!«, verlangte die Hexe.

      Vorsichtig drehte ich mich im Kreis, um herauszufinden, aus welcher Richtung ihre Stimme kam. Noch immer war ich allein.

      »Bring mir das Buch, oder es wird dich umbringen. Ich werde dich umbringen.«

      Etwas biss mich in den Unterarm, so fest, dass ich zusammenzuckte und alle Mühe hatte, nicht vor Überraschung und Schmerz aufzuschreien. Als ich den Blick auf meinen Unterarm richtete, blickte mich die Kreuzotter, die sich von den Seiten des Buches auf meinen Arm geschlängelt hatte, bösartig an.

      Zeig dich, hätte ich der Hexe am liebsten entgegengeschleudert. Dann bring ich dir dein verdammtes Buch. Aber ich hielt mich zurück.

      »Wie heißt du?«, fragte die Hexe, jetzt wieder lockend. »Verrat mir deinen Namen.«

      Plötzlich wuchs eine Wand aus Eis vor mir aus den Felsen und versperrte mir den Weg ins Tal. Überall um mich herrschte Sommer, doch vor mir erstreckte sich über die ganze Breite des Pfades eine glatte Eisfläche, die mehrere Mannslängen hoch war. Durch ihre durchscheinende Oberfläche glaubte ich einen dunklen Schemen zu erkennen. Die Gestalt einer Frau, die sich auf mich zubewegte. Die Hexe.

      »Da bist du«, sagte die Fremde, und ich konnte sehen, wie sie eine Hand auf ihre Seite der Eiswand legte. Sie schien groß zu sein, größer als ich, und schlank. Mehr konnte ich nicht erkennen. Das Eis war dick und verzerrte die Konturen der Hexe. Ich erkannte nur undeutlich ihre Gestalt, jedoch keine Gesichtszüge.

      »Das Buch gehört dir nicht«, sagte die Hexe. »Gib es mir, und ich mache dich reich.«

      Ich tat ihr noch immer nicht den Gefallen, zu antworten. Stattdessen holte ich ein kleines Beutelchen aus meinem Ranzen, in dem ich Salz aufbewahrte.

      »Du musst mir nur verraten, wo du bist«, lockte die Hexe, ganz so, als hätte sie mir nicht erst vor einem Augenblick mit dem Tod gedroht.

      Sie kann nicht zu mir kommen, erkannte ich. Das Eis schützt nicht nur sie, es schützt auch mich.

      Das war seltsam. Wir starrten uns an, auch wenn wir uns nicht richtig erkennen konnten. Aus dem Nichts erblühten Blumen in der durchsichtigen Wand. Zuerst hielt ich sie für Rosen. Dann erkannte ich, dass es Blut war, erstarrt im kalten Griff des Eises. Die Symbole aus dem Grimoire umschlangen meine Arme inzwischen wie glühender Draht. Die Hand, mit der ich den Dolch hielt, zitterte.

      Silber tötet Hexen, versuchte ich mich zu beruhigen. Falls sie die Eiswand durchbricht, ist sie geliefert. Aber ich wusste, so einfach

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