Anleitung zum Konservativsein. Alexander Gauland
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Der zweite starke Impuls, der sein ganzes Werk durchzieht, ist eine Großzügigkeit des Herzens, ein Mitleiden mit den Unterdrückten, eine tiefe Moralität und daraus gespeist ein reformerischer Eifer, das Los der Menschen zu bessern. »Alle Menschen sind Gottes Geschöpfe, und es ist der Zweck des Staates, die Wohlfahrt der Menschen zu befördern.« Das galt für die Inder wie für die Engländer und Amerikaner. In Burkes Anklagerede gegen Warren Hastings findet sich der Satz: »Die Aufgabe dieses Tages ist nicht das Schicksal dieses Mannes, es geht nicht allein darum, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist, sondern darum, ob Millionen Menschen elend oder glücklich sein werden.« Diese Sorge um das Schicksal der vielen Einzelnen machte Burke misstrauisch gegenüber allen Abstraktionen, gegen die Anrufung der Menschheit wider die Schwächen des Menschen, gegen die abstrakte Freiheit, die sich nicht in Institutionen zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen verwirklicht, gegen gesellschaftliche Entwürfe vom Reißbrett, die die Traditionen von Jahrhunderten außer Acht lassen, gegen eine Raison des Staates, die den Staatszweck losgelöst von den Menschen definiert, gegen die Vergötzung der Nation sowie gegen alle Spekulationen, die, von einem neuen Menschen träumend, die menschliche Gesellschaft neu erfinden und Verfassungen auf ein leeres Blatt Papier schreiben wollen. Über die Moralität einer Politik entscheidet nach Burke nicht die Güte ihrer Prinzipien, sondern entscheiden allein die Wirkungen, die sie für die einzelnen Menschen hat. Nur das Glück des Einzelnen ist als Maßstab zur Beurteilung der Qualität einer Politik tauglich. Daraus folgt für Burke ein schonender Umgang mit dem Gewordenen und Gewachsenen.
Nur im äußersten Notfall durften Regeln verändert, Verträge aufgekündigt, Privilegien beseitigt werden. Bereits in seiner Satire auf Bolingbroke hatte Burke den Versuch verspottet, eine bestehende Ordnung durch eine »natürliche Ordnung« zu ersetzen. Denn die Gesellschaft ist für ihn ein Teil der großen Übereinkunft, die alle Dinge miteinander verbindet, die Ordnung der Welt begründet und damit unabhängig von der Willensentscheidung der Einzelnen Bestand hat. Zwar gibt es auch für Burke Situationen, in denen die gewachsene politische Form, die den Frieden und den Fortbestand sittlicher Traditionen garantiert, durch Gewalt zerstört werden muss, aber dieses Revolutionsrecht ist ein Notrecht unter der Bedingung zwingender, unabweisbarer Notwendigkeit.
Burke hat nicht gegen die Aufklärung des 18. Jahrhunderts revoltiert, sein Widerspruch war nicht gegen die Rationalität, sondern gegen ihre Unvollkommenheit gerichtet. Er hat zweihundert Jahre vor Horkheimer und Adorno die »Dialektik der Aufklärung« gesehen. »Vernünftiges Handeln«, so hat es Dieter Henrich einmal formuliert, »kann nicht in Unkenntnis bisheriger Geschichte und in der dekretierten Abkehr von ihr ins Werk gesetzt werden. Es ist darauf angewiesen, sich der Traditionen zu vergewissern, in denen es steht, der Situation, die es vorfindet, auch der Handlungsmöglichkeiten, die stets beschränkt sind durch die Existenz von Motivzusammenhängen, welche nur durch Verständigung dauerhaft veränderbar sind, nicht durch Gewalt.« Burke ist kein Führer in die Irrationalität der politischen Romantik, er hat uns nur den vernünftigen Wert moralischer Verpflichtungen eingeschärft, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen und der Mensch als soziales Wesen nicht existieren kann. Nach Kenntnis dieser Gedankenwelt ist es nicht schwierig, Burkes Haltung gegenüber der Französischen Revolution zu verstehen. Hier war eine Kraft am Werke, die die Schönheit der alten Monarchie zertrümmerte, die Aristokraten und Priester drangsalierte und tötete und eine neue Gesellschaft auf den abstrakten Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit errichten wollte.
Der Romantiker Burke sah den Untergang der ehrwürdigsten Monarchie Europas: »Es ist jetzt 16 oder 17 Jahre, dass ich die Königin von Frankreich, damals noch als des Dauphins Gemahlin, zu Versailles sah; und nie hat wohl diesen Erdkreis, den die leichte Göttergestalt kaum zu berühren schien, eine holdere Erscheinung begrüßt. Ich hätte geglaubt, zehntausend Schwerter müssten aus ihren Scheiden fahren, um einen Blick zu bestrafen, der sie zu beschimpfen drohte. Aber die Zeiten der Rittersitte sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomisten und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz von Europa ist ausgelöscht auf ewig.« Der Moralist Burke empfand mit den Verfolgten: »Ich hasse die Tyrannei, aber ich hasse sie am meisten, wo die meisten davon betroffen sind. Die Tyrannei der Menge ist nur eine vervielfältigte Tyrannei.«
Und der Gegner der Abstraktionen konnte sein Verdikt über die Verfassungsmacherei der Franzosen mit den Ereignissen von 1688 begründen, in denen die Freiheiten der Engländer und ihre in Jahrhunderten gewachsene Verfassung wiederhergestellt worden waren. Die Franzosen hatten alles zerschlagen und saßen nun ratlos auf den Trümmern einer fast tausendjährigen Vergangenheit; die Engländer hatten 1688 die Institutionen vorsichtig reformiert und die alten Rechte bewahrt. Das revolutionäre Notrecht hielt Burke im Falle Frankreichs nicht für gegeben, da er die Reformmöglichkeiten nicht für erschöpft ansah. Burke hat die Französische Revolution vor die Schranken des 18. Jahrhunderts gefordert und ihr Irrationalität bescheinigt, er hat nicht die Irrationalität zum Kampf gegen die Aufklärung aufgerufen. Burke war nicht der Begründer einer neuen konservativen Weltsicht. Burkes Botschaft ist die Botschaft des Maßes und der Mitte, der vorsichtigen Reform bei Bewahrung des Ganzen. »Alle Regierungen, ja alle menschlichen Freuden und Genüsse, jede Tugend und jede kluge Handlung ist auf einen Kompromiss, eine Balance gegründet. Wir wägen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ab, wir nehmen und geben, wir nehmen einige Rechte nicht in Anspruch, damit wir uns anderer erfreuen können, und wir wollen lieber glückliche Bürger sein als spitzfindige Disputanten.«
Deutsche Geschichte
Mit England trat ein gefestigter liberal-aristokratischer Nationalstaat der französischen Herausforderung entgegen, in Deutschland trafen die Burke’schen Gedanken auf die Agonie des alten Reiches mit seinen spätfeudalen Traditionen. Aus dieser »Ungleichzeitigkeit« der historischen Entwicklung in England und Deutschland folgte eine unterschiedliche Ausprägung konservativer Gedanken in beiden Ländern. Die deutsche Neigung zu politischer Romantik, zur theoretischen Rekonstruktion einer Gesellschaft aus dem christlichen Mittelalter, zum »Zu-Ende-Denken« der konservativen Impulse, waren der von Burke begründeten protestantisch-konservativen Tradition fremd und blieben es dem britischen Konservativismus bis in unsere Tage. In Deutschland, Frankreich und Spanien, wo die Französische Revolution durch Napoleon zur Herrschaft gelangte, gab es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Tendenzen eines katholisch-konservativen Absolutismus, der den irrationalen Gegenentwurf wagte und damit in den gleichen Fehler wie die Französische Revolution verfiel.
Der Kampf gegen Napoleon wurde zum Kampf gegen »westliche Überfremdung«. Mit der Erhebung der Völker gegen den Korsen begannen alte politische und geistige Verbindungen zwischen West- und Mitteleuropa abzureißen. Der Übergang zur Romantik und die Entwicklung von der Aufklärung zur idealistischen Metaphysik ließen das Staatsdenken Deutschlands auf eine isolationistische Bahn geraten. So verteidigte Hegel die Vernunft gegen den Verstand, Adam Müller die Idee gegen den Begriff. Im 20. Jahrhundert nennt Ludwig Klages den Geist den Widersacher der Seele und Martin Heidegger die Vernunft den Widersacher des Denkens. Ein anarchischer, von den Institutionen losgelöster Freiheitsbegriff, die Idee vom organischen Staat, die Gleichsetzung von Staat und Nation und eine dynamischrelativistische Theorie geschichtlicher