Chefarzt Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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Manchmal war sie ihm unheimlich.
»Es gefällt mir nicht, dass du immer weißt, was ich denke.«
Wieder dieses leise Lachen, das wohlig auf seiner Haut prickelte.
»Oh, nicht immer. Aber diesmal war es nicht schwer zu erraten.« Sie schob ihn von sich und sah ihm in die Augen. »Kennst du das Geheimnis schöner Erinnerungen?«
»Du wirst es mir bestimmt gleich verraten.«
»Schöne Erinnerungen haben oft damit zu tun, dass man gemeinsam Schwierigkeiten überwunden hat. Auch wenn die Erinnerung uns anderes vorgaukelt: Die Zeiten damals waren alles andere als leicht. Nicht für dich und nicht für mich. Kein Grund also, ihnen nachzutrauern. Freu dich lieber, dass wir überlebt und heute ein schönes Verhältnis zu unseren Kindern haben. Und genügend Abstand«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
»Nana, was sind denn das für Töne?«
Statt einer Antwort nahm Fee ihren Mann an der Hand und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer. Sie drückte ihn auf die Lümmelcouch und reichte ihm ein Glas Wein, dunkelrot und samtig weich. Sie setzte sich neben ihn und sah zu, wie er trank.
»Du sollst heiter Raum um Raum durchschreiten. An keinem wie an einer Heimat hängen«, zitierte sie aus ihrem Lieblingsgedicht von Hermann Hesse. »Alles hat seine Zeit. Und ich bin sehr froh, dass ich dich inzwischen abends ganz für mich allein habe.« Ihre Stimme vibrierte.
Genau wie die Härchen auf seinen Armen, als sie sanft darüberstrich.
Daniel streckte sich und stellte das Glas auf dem Tisch.
»So betrachtet hast du natürlich recht.« Er zog Fee an sich. Vergrub seine Nase an ihrem Hals. Atmete ihren Duft nach langen Tagen am Meer und lauen Sommernächten. Wie stellte sie das nur an mitten im Winter?
»Und was die schönen Erinnerungen angeht: Besonders wichtig ist es, aus dem Alltag auszubrechen. Gewöhnliche Dinge mal anders zu tun.« Einen nach dem anderen öffnete Fee die Knöpfe seines Hemdes. Küsste jedes Stück Haut, das sichtbar wurde.
»Jetzt verstehe ich.« Daniel lachte leise und zog sie an sich. »Dann werde ich jetzt für ein paar Erinnerungen sorgen, die du dein Leben lang nicht mehr vergisst.«
*
Es kam selten vor, dass es Milan Aydin nicht gelang, seine Gesprächspartnerin in seinen Bann zu ziehen. Doch heute war einfach nicht sein Tag! Immer wieder versickerte das Gespräch wie Wasser im trockenen Wüstensand. Er beschloss, es zu beenden, bevor es unangenehm wurde.
»Dann werde ich mal in mein Bett gehen.«
Ein gezielter Wurf. Der Becher landete im Abfall. Doch Annabels Aufmerksamkeit gehörte Milan.
»Ich dachte, Sie hätten Nachtschicht.«
»Nein. In meiner Wohnung hat es gebrannt. Deshalb habe ich mein Quartier vorübergehend hier aufgeschlagen.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Selbst schuld.« Milan lächelte schief. »Ich bin wahrscheinlich der beste Neurochirurg weit und breit. Aber mit Technik habe ich es nicht so. Na ja, so hat eben jeder seine speziellen Begabungen.«
»Da haben Sie recht.«
Keine Fragen. Keine Bemerkung, an die er anknüpfen konnte.
»Oh, ich fürchte, ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Sie wollten ja Ihre Mutter besuchen.«
Zu seinem Erstaunen machte Annabel keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen starrte sie auf den leeren Becher in ihren Händen.
»Ach, ehrlich gesagt bin ich wegen meines Vaters hier«, gestand sie. »Zu meiner Mutter hatte ich noch nie so einen guten Draht. Wir sind einfach zu verschieden.«
Hoppla! Das klang nach Gesprächsbedarf!
Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.
»Ich kenne Ihre Mutter ja nicht. Aber wer so eine Tochter großzieht, kann nicht so verkehrt sein.«
Annabel lachte pflichtschuldig.
»Netter Versuch. Trotzdem verstehen wir uns nicht. Inga war schon immer so eine Ökotante. Während andere Mütter in schicken Kostümen zu Schulfeiern kamen, trat sie im Schlabberlook und Jesuslatschen auf.«
»Das lassen Sie mal nicht den Mönch hören, der seit gestern in der Klinik liegt«, scherzte Milan. »Er könnte es missverstehen.«
Diesmal lachte Annabel nicht.
»Können Sie sich vorstellen, wie peinlich das für einen Teenager ist? Das Gespött der ganzen Schule war mir sicher. Wildfremde Kinder zeigten mit dem Finger auf mich und lachten mich aus.« Sie blickte hoch. Sah dem Patienten nach, der auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Lobby schlich und in einem der Flure verschwand. »Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn wir vorher einen Draht zueinander gehabt hätten. Aber so …« Ihr Blick fiel wieder auf den leeren Becher in ihren Händen. »Es gibt einen Grund, warum ich früh ausgezogen und möglichst weit weggegangen bin.«
»Verstehe.« Milan nickte gewichtig. »Ich bin auch früh von zu Hause weg. Das lag aber eher an meinem Bruder Deniz denn an meinen Eltern.«
»Manchmal ist Flucht eben doch der einzige Ausweg.« Annabel lächelte schwermütig.
Schritte waren zu hören. Sie näherten sich schnell.
»Ach, Dr. Aydin, gut, dass ich Sie treffe. Kennen Sie zufällig eine Annabel Ruhland?«, fragte die Nachtschwester.
Mit einem Satz war Annabel auf den Beinen.
»Das bin ich.«
»Oh!« Ein erleichtertes Lächeln. »Ihr Vater ist bei Ihrer Mutter auf der Intensivstation. Sie können jetzt auch zu ihr.«
»Perfekt. Vielen Dank.« Annabel drehte sich zu Milan um. »Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Gute Nacht.«
*
Beim Anblick seiner Frau schlug Uwe Ruhland die Hand vor den Mund. Ein ganzer Turm von Geräten stand neben Ingas Bett. Nur mit Mühe konnte er ihr Gesicht zwischen Kabeln, Schläuchen und Verbänden ausmachen. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Roboter als mit einem lebenden Menschen.
»Wie geht es ihr?«
Dr. Sophie Petzold stand am Monitor und notierte die Werte im Krankenblatt. Uwes Frage lenkte sie ab. Sie hielt inne.
»Sie hat die Operation überstanden.«
»Mehr nicht?«
»Das ist schon sehr viel nach einem subduralen Hämatom, einer Leberruptur, einer Mittellappenresektion und anderen Kleinigkeiten.« Dr. Petzold beugte sich wieder über das Blatt.
Uwes Hals wurde eng.
»Wird Inga wieder gesund werden?«
»Das