Lange Schatten. Louise Penny
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»Komm rein!«, rief er, und sie machte einen eleganten Kopfsprung, obwohl sie die Beine nicht zusammenpresste und es auch nicht schaffte, die Zehenspitzen zu strecken, sodass sie beim Eintauchen der Füße immer einen Schwanz von Blasen hinter sich herzog. Er wartete, bis sie wieder auftauchte und das Gesicht, umrahmt von glänzenden Haaren, der Sonne entgegenhielt.
»Hat es gespritzt?«, fragte sie und paddelte mit den Beinen, umspült von Wellen, die zum Ufer drängten.
»Du bist wie ein Messer eingetaucht. Ich habe kaum mitbekommen, wie du die Wasseroberfläche durchschnitten hast.«
»Zeit fürs Frühstück«, sagte Reine-Marie, als sie zehn Minuten später die Leiter zum Steg hochkletterten.
Gamache reichte ihr ein sonnengewärmtes Handtuch. »Was nimmst du?«
Auf dem Weg ins Haus beschrieben sie sich die enormen Berge von Essen, die sie bestellen würden. Am Manoir angelangt, ergriff er ihren Arm und dirigierte sie zum Wald.
»Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie lächelte. »Das kenn ich doch schon.«
»Das doch nicht.« Er kicherte und blieb dann abrupt stehen. Sie waren nicht mehr allein. Dort kauerte eine Gestalt und grub in der Erde. Sie hielt inne und drehte sich langsam zu ihnen um.
Es war eine junge Frau, über und über verdreckt.
»Oh, hallo.« Sie schien erstaunter als die beiden Gamaches. So erstaunt, dass sie Englisch sprach statt Französisch, wie es im Manoir Tradition war.
»Hallo«, erwiderte Reine-Marie auf Englisch und lächelte beruhigend.
»Désolée«, sagte die junge Frau und schmierte sich noch mehr Erde in ihr feucht glänzendes Gesicht. Dort verwandelte sich der Dreck augenblicklich in etwas Schlammähnliches, sodass sie ein wenig wie eine lebendige Tonfigur aussah. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass schon jemand wach ist. Zum Arbeiten ist das die beste Zeit. Ich gehöre zu den Gärtnern.«
Sie wechselte ins Französische, das sie fließend mit einem winzigen Akzent sprach. Der leichte Wind trug den Duft von etwas Süßem, Chemischem, Vertrautem zu ihnen. Insektenspray. Die junge Frau musste darin gebadet haben. Die Gerüche des Québecer Sommers. Rasenschnitt und Insektenspray.
Gamache und Reine-Marie sahen zu Boden und entdeckten frisch gegrabene Löcher. Die Augen der jungen Frau folgten ihrem Blick.
»Ich will sie setzen, bevor es zu heiß wird.« Sie deutete auf ein paar welke Pflänzchen. »Aus irgendeinem Grund sterben alle Pflanzen in diesem Beet.«
»Was ist denn das?«, fragte Reine-Marie, die sich von den Löchern abgewandt hatte.
»Genau das wollte ich dir gerade zeigen«, sagte Gamache.
Seitlich von ihnen und halb hinter dem Gebüsch verborgen stand der große Marmorblock. Jetzt konnte er wenigstens jemanden danach fragen.
»Keine Ahnung«, antwortete die Gärtnerin. »Der ist vor ein paar Tagen mit einem riesigen Laster gebracht worden.«
»Aus was ist er denn?« Reine-Marie berührte ihn.
»Marmor«, sagte die Gärtnerin und stellte sich neben sie.
»Da stehen wir also«, sagte Reine-Marie schließlich, »umgeben von Wäldern und Seen im Garten des Manoir und«, dabei nahm sie die Hand ihres Mannes, »staunen das einzige widernatürliche Ding weit und breit an.«
Er lachte. »Ja, so ist das.«
Sie nickten der Gärtnerin zu und verschwanden im Manoir, um sich fürs Frühstück umzuziehen. Gamache fand es interessant, dass Reine-Marie genauso wie er den Abend zuvor auf den Marmorblock reagiert hatte. Was es auch war, es war widernatürlich.
Die Terrasse lag zu dieser Stunde im Schatten, und es war noch nicht so sengend heiß; zu Mittag würden die Steinplatten dann glühen. Reine-Marie und Gamache trugen beide ihre Sonnenhüte.
Elliot servierte ihnen ihren Café au Lait und das Frühstück. Reine-Marie goss Ahornsirup, der hier aus der Gegend stammte, auf ihr Crêpe mit wilden Heidelbeeren, und Gamache stach in seine Eier Benedict und sah zu, wie das Eigelb in die Sauce hollandaise floss. Mittlerweile füllte sich die Terrasse mit Finneys.
»Es ist nicht so wichtig«, hörten sie hinter sich eine Stimme, »aber wenn wir den Tisch unter dem Ahornbaum haben könnten, wäre das sehr schön.«
»Ich glaube, der ist schon besetzt, Madame«, sagte Pierre.
»Ach ja? Tja, da kann man wohl nichts machen.«
Bert Finney war schon unten und auch Bean. Sie lasen beide Zeitung. Bert studierte den Cartoon, Bean die Todesanzeigen.
»Du wirkst besorgt, Bean«, sagte der alte Mann und ließ die Zeitung sinken.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass offenbar mehr Leute sterben als geboren werden?«, fragte Bean und reichte Finney ihren Teil der Zeitung, der ihn nahm, betrachtete und mit ernster Miene nickte.
»Das bedeutet, dass wir Übrigen mehr bekommen.« Er gab ihr den Teil zurück.
»Ich will aber gar nicht mehr haben«, sagte Bean.
»Wart’s nur ab.« Und Finney widmete sich wieder dem Comic.
»Armand.« Reine-Marie berührte sanft seinen Arm. Dann senkte sie die Stimme zu einem kaum vernehmbaren Flüstern. »Ist Bean eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?«
Gamache, der sich das selbst schon gefragt hatte, sah noch einmal hin. Das Kind trug eine billige Brille, zumindest sah sie billig aus, und die Haare um sein hübsches, gebräuntes Gesicht reichten ihm bis an die Schultern.
Er schüttelte den Kopf.
»Das ist wie bei Florence«, sagte er. »Bei ihrem letzten Besuch bin ich mit ihr den Boulevard Laurier entlangspaziert, und alle haben unseren hübschen Enkelsohn bewundert.«
»Trug sie ihren Sonnenhut?«
»Ja.«
»Und haben die Leute auch die Ähnlichkeit zwischen euch bewundert?«
»Ja, stimmt, das haben sie.« Gamache bedachte sie mit einem anerkennenden Blick, so als wäre sie ein Genie.
»Komisch, was?«, sagte sie. »Allerdings ist Florence gerade mal ein Jahr. Für wie alt schätzt du Bean?«
»Schwer zu sagen. Neun, zehn? Kinder wirken immer älter, wenn sie Todesanzeigen lesen.«
»Das muss ich mir merken. Todesanzeigen machen älter.«
»Noch etwas Konfitüre?« Pierre tauschte ihre fast leer gegessenen Schüsselchen gegen frische aus, die mit hausgemachter Konfitüre aus Walderdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren gefüllt waren. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte er.
»Nein, danke, aber ich hätte eine Frage«, sagte Gamache und deutete mit seinem Croissant auf die Ecke des