Lange Schatten. Louise Penny
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Sie hielt inne.
»Aber ich war begeistert. Mein erster Job. Ich hatte meinen Eltern erzählt, dass ich einen Segelkurs im Jachtklub machte, und sprang stattdessen in den 24er und fuhr nach Osten. Unbekanntes Terrain für Anglos in den Sechzigern. Eine richtige Mutprobe«, sagte sie mit unüberhörbarer Selbstironie in der Stimme. Gamache konnte sich jedoch an die Zeit erinnern und wusste, dass sie recht hatte.
»Ich erinnere mich an meinen ersten Gehaltsscheck. Ich zeigte ihn zu Hause meinen Eltern. Wissen Sie, was meine Mutter sagte?«
Gamache schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sie betrachtete den Scheck, dann gab sie ihn mir zurück und sagte, ich sei bestimmt stolz auf mich. Und das war ich auch. Aber es war klar, dass sie eigentlich etwas anderes meinte. Und da tat ich etwas sehr Dummes. Ich fragte sie, was sie meinte. Seither weiß ich, dass ich keine Fragen stellen sollte, wenn ich nicht auf die Antwort vorbereitet bin. Sie sagte, ich sei privilegiert und würde das Geld überhaupt nicht brauchen, jemand anderes allerdings schon. Im Grunde hätte ich es einem armen Mädchen gestohlen, das den Job tatsächlich brauchen würde.«
»Das ist nicht nett«, sagte Gamache. »Aber sie hat es doch bestimmt nicht so gemeint.«
»Doch, das hat sie, und sie hatte recht. Am nächsten Tag habe ich gekündigt, aber gelegentlich ging ich an dem Laden vorbei und warf einen Blick durchs Fenster, um der neuen Bedienung bei der Arbeit zuzusehen. Und ich war glücklich.«
»Armut kann die Menschen erdrücken«, sagte Gamache leise. »Aber das kann ein privilegiertes Leben auch.«
»Ich habe das Mädchen sogar beneidet«, sagte Julia. »Dumm, ich weiß. Romantisch. Ich bin sicher, dass sie kein leichtes Leben hatte. Aber ich dachte, dass es vielleicht wenigstens ihr eigenes ist.« Sie lachte und nippte an ihrem Glas. »Sehr gut. Meinen Sie, dass er von den Mönchen hier in der Abtei stammt?«
»Der Bénédictine? Ich weiß es nicht.«
Sie lachte. »Diese Worte höre ich nicht oft.«
»Welche Worte?«
»›Ich weiß es nicht.‹ Meine Familie weiß immer alles. Mein Mann weiß immer alles.«
Die letzten Tage hatten sie über das Wetter geplaudert, den Garten, das Essen im Manoir. Das war das erste ernsthafte Gespräch, das er mit einem der Finneys führte, und es war das erste Mal, dass diese Frau ihren Ehemann erwähnte.
»Ich bin schon ein paar Tage früher ins Manoir gekommen. Um …«
Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte, und Gamache wartete. Er hatte alle Zeit und Geduld der Welt.
»Ich bin gerade dabei, mich scheiden zu lassen. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen.«
»Ich habe davon gehört.«
Die meisten Kanadier hatten davon gehört. Julia Martin war mit David Martin verheiratet, dessen spektakulärer wirtschaftlicher Erfolg und noch spektakulärerer Niedergang von den Medien genüsslich auseinandergenommen worden war. Er hatte sein Vermögen mit Versicherungen gemacht und war zu einem der reichsten Männer Kanadas aufgestiegen. Sein Niedergang hatte vor einigen Jahren begonnen. Er hatte sich quälend lange hingezogen, so als rutsche jemand einen schlammigen Abhang hinunter. Man hatte ständig den Eindruck, er könnte die Talfahrt aufhalten, aber stattdessen sammelte sich dabei immer schneller immer mehr Schlamm und Dreck an. Bis es schließlich selbst seine Feinde nicht mehr mit ansehen konnten.
Er hatte alles verloren, sogar seine Freiheit.
Seine Frau hatte ihm beigestanden. Groß, elegant, würdevoll. Statt mit ihrem privilegierten Leben Neid zu wecken, hatte sie es irgendwie geschafft, die Zuneigung der Leute zu gewinnen. Die Leute mochten ihre Fröhlichkeit, die sich mit Sensibilität paarte. Ihre Würde und Aufrichtigkeit machten es möglich, sich mit ihr zu identifizieren. Zu guter Letzt bewunderten sie diese Frau sogar, weil sie sich öffentlich entschuldigte, als schließlich klar war, dass ihr Mann alle und jeden angelogen und Zehntausende von Menschen um ihre gesamten Ersparnisse gebracht hatte. Und sie hatte versprochen, das Geld zurückzuzahlen.
Inzwischen saß David Martin in einem Staatsgefängnis in British Columbia ein, und Julia Martin war nach Hause zurückgekehrt. Sie würde nach Toronto ziehen, hatte sie der Presse erklärt, kurz bevor sie verschwunden war. Und jetzt war sie hier, in Québec. Mitten in den Wäldern.
»Ich wollte mich vor dem Familientreffen ausruhen, endlich wieder zu Atem kommen. Ich bin gern für mich allein. Das habe ich vermisst.«
»Verstehe«, sagte er. Und das tat er. »Aber eines begreife ich nicht.«
»Ja?« Sie klang wachsam, wie eine Frau, die es gewohnt war, dass ihr allzu persönliche Fragen gestellt werden.
»Peters praller pinker Pickel platzt?«
Sie lachte. »Das ist so ein Spruch aus unserer Kindheit.«
Auf einer Hälfte ihres Gesichts spielte das goldene Licht aus dem Manoir. Die beiden standen schweigend da und sahen zu, wie die Leute von Zimmer zu Zimmer gingen. Es war fast so, als würden sie einer Theateraufführung beiwohnen. Die Bühne erleuchtet und für verschiedene Szenen verschiedene Kulissen, durch die sich die Schauspieler bewegten.
Er sah wieder zu seiner Gesprächspartnerin und wunderte sich. Warum war der Rest der Familie im Haus und sie hier draußen im Dunkeln, allein, und beobachtete sie?
Sie hatten sich im Salon mit der hohen Holzdecke und den edlen Möbeln versammelt. Mariana ging gerade zum Klavier, wurde aber von Madame Finney wieder verscheucht.
»Die arme Mariana.« Julia lachte. »Es ändert sich doch nie etwas. Magilla kommt nie dazu zu spielen. Thomas ist der Musiker in der Familie, so wie mein Vater. Er war sehr talentiert.«
Gamache ließ seinen Blick zu dem alten Mann auf dem Sofa wandern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die gichtigen Hände gefällige Klänge hervorbrachten, aber wahrscheinlich waren sie ja nicht immer so verkrüppelt gewesen.
Thomas setzte sich auf die Klavierbank, hob die Hände und schickte sich an, die Nachtluft mit einer Melodie von Bach zu erfüllen.
»Er spielt wunderschön«, sagte Julia. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Gamache stimmte ihr zu. Durchs Fenster sah er, wie Reine-Marie Platz nahm und ein Kellner zwei Espressi und zwei Gläser Cognac vor sie stellte. Er wollte zurück ins Haus.
»Es fehlt übrigens noch einer von uns.«
»Ach?«
Sie hatte versucht, es zu verbergen, aber Gamache war der Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen.
Reine-Marie rührte ihren Espresso um und hatte den Kopf dem Fenster zugewandt. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Da sie im Licht saß, sah sie mit Sicherheit nur die Spiegelung des Zimmers in der Scheibe.
Hier bin ich, flüsterte seine Seele. Hier drüben.
Sie drehte den Kopf ein wenig weiter, sodass ihre Augen direkt auf ihn gerichtet waren.
Das war natürlich