Ausgewählte Tiergeschichten. Manfred Kyber
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Tiergeschichten - Manfred Kyber страница 3
»Warum speisen Sie nichts, Herr Kollege?« fragte ein kleiner Alligator das Krokodil im Vorbeischwimmen. Er sah satt und zufrieden aus und schluckte mit jovialer Miene an den Resten eines Angehörigen.
Das Krokodil konnte schwer sprechen. »Ich bin patentiert«, lispelte es hochmütig, »ich kann nichts essen, ich habe mein Diplom im Maul. Dafür bin ich jetzt fair.« »Ich für mein Teil bin lieber satt«, meinte der kleine Alligator, »aber Sie sehen ja aus, als hätten Sie seit heute früh nichts mehr zu sich genommen. Das gesunde Grün Ihrer Gesichtsfarbe ist förmlich grau geworden. Legen Sie doch Ihr Diplom ans Ufer und speisen Sie zu Abend!« Das Krokodil kämpfte innerlich – der Appetit war furchtbar. »Nein«, lispelte es schließlich mühsam, »am Ufer stehlen es mir die Affen.«
»Dann spucken Sie's einfach aus!« sagte der kleine Alligator frech, »wozu brauchen Sie denn ein Diplom? Wenn man ein Diplom nur immer im Maul haben kann, soll man lieber darauf verzichten, sonst kann man nichts mehr fressen und wird zum Schluß selbst gefressen und noch dazu ausgelacht.« Das ist eine große Lebensweisheit, aber sie bezieht sich natürlich nur auf Krokodile.
Das Krokodil blieb unbeweglich. Es behielt sein Diplom im Maul und glotzte den Vetter böse und hungrig an.
»Wenn Sie denn schon Ihr Diplom im Maul behalten«, fuhr der Alligator fort, »so gestatten Sie vielleicht, daß ich Ihre Hintertatze zum Nachtisch esse.«
Das Krokodil drehte sich vor Angst und Wut um sich selbst herum, und in dieser Angst und Wut verschluckte es sein Diplom. Da wurde ihm sehr übel, so übel, wie ihm noch nie gewesen war – und in tiefer Ohnmacht schwamm es flußabwärts, wobei es vom Alligator und anderen teilnehmenden Verwandten aufgegessen wurde. Damit endet diese traurige Geschichte.
Nur eine Familienanzeige habe ich noch hinzuzufügen: Der kleine Makak hatte sich inzwischen mit des Nachbars Ältester verlobt. Sie waren ein glückliches Brautpaar und hatten gleich am Tage darauf eine Garden-Party im Kreise der Angehörigen unternommen, natürlich begleitet von einer Ehrenäffin, denn die Affen haben etwas sehr Menschliches, wie jeder weiß. Dabei erfuhren sie den Tod des patentierten Krokodils. Ein ganz alter Affe meldete ihn, und er sagte »ja, ja« dazu. Das sagte er immer, und darum galt er für sehr klug. Der kleine Makak freilich wußte mehr davon; denn er hatte ja das verblichene Krokodil persönlich gekannt, so persönlich, daß es ihn fast gefressen hätte. Und das ist die persönlichste Bekanntschaft, die man machen kann. Und da die Dame d'honneur gerade auf einen Dattelbaum geklettert war und fraß – sie fühlte keine Liebe mehr und fraß daher doppelt –, so erzählte der kleine Makak seiner Liebsten die ganze gräßliche Geschichte. »Laß dich ja niemals patentieren, Makchen!« sagte die Kleine und umschlang ihn mit ihrem Schwanz.
»Nein, niemals«, sagte Makchen und suchte liebevoll und emsig im Fell seiner Braut.
Der K. d. R.
Die Regenwürmer hatten einen Kongreß einberufen.
Es war ein moderner Kongreß. Darum hieß er nicht der Kongreß der Regenwürmer, sondern der K.d.R. Der K.d.R. tagte im Garten an einer recht staubigen Stelle. Es wurden nur Fragen der Bodenkultur erörtert. Weiter geht der Horizont der Regenwürmer nicht. Sie kriechen auf der Erde und essen Erde. Es sind arme bescheidene Leute, aber sie sind nützlich und notwendig. Die Erde würde ohne sie nicht gedeihen. Ihre Arbeit muß verrichtet werden. Es war Abend. Die Dämmerung lag auf den Wegen, auf denen der K.d.R. zusammengekrochen war.
Ein langer alter Regenwurm hatte den Vorsitz übernommen. Er besprach Fragen lokaler Natur, die Bodenverhältnisse des Gartens, in dem man arbeitete. Es waren erfreuliche Resultate.
»Wir sind schon recht tief in die Erde eingedrungen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir haben viele Erdschichten an die Oberfläche befördert, von denen niemand vorher etwas wußte. Wir haben sie zerlegt und zerkleinert. Aber die Erde scheint noch tiefer zu sein, als wir dachten. Sie scheint noch mehr zu bergen, als wir heraufgeschafft haben. Wir müssen fleißig weiter überall herumkriechen und Erde essen. Es ist eine große Aufgabe. Damit schließe ich den K.d.R.«
Er ringelte sich verbindlich.
Der offizielle Teil des K.d.R. war erledigt.
Man bildete zwanglose Gruppen mit Nachbarn und Freunden und sprach über die Praxis der Gliederbildung. Man wollte allerseits lang werden. Darin sah man den Fortschritt. Neue Methoden hierfür waren stets von Interesse. –Die allerneueste Methode, lang zu werden«, sagte ein junger Regenwurm, »heißt ›Ringle dich mit dem Strohhalm‹. Das stärkt die Muskeln und zieht die Glieder auseinander. Sehen Sie – so!«
Er tastete nach einem Strohhalm und demonstrierte die neue Methode energisch und mit Überzeugung. Dabei stieß er an etwas an. Er fühlte, daß es rauh und haarig war. »Nanu, was ist denn das? Das hat ja Haare und bewegt sich!« Er ringelte sich ängstlich vom Strohhalm los.
»Verzeihen Sie, ich war so müde. Da hab ich mich auf den Strohhalm gesetzt«, sagte das Etwas mit Haaren. »Wer sind Sie denn?« fragte der Regenwurm und kroch vorsichtig wieder näher.
»Ich bin Raupe von Beruf. Ich hätte mich gewiß nicht auf den Strohhalm gesetzt, aber ich bin so sehr müde. Ich habe einen so langen Weg hinter mir. Ich bin immer im Staub gekrochen. Nur selten fand ich etwas Grünes. Ich bin ein bißchen schwächlich, schon von Kind an. Es ist auch so angreifend, bei jedem Schritt den Rücken zu krümmen. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin zu müde. Sterbensmüde.« Die Raupe war ganz verstaubt und erschöpft. Ihre Beinstummel zitterten.
Der gesamte K.d.R. kroch teilnahmsvoll heran.
»Sie müssen sich stärken«, sagte ein Regenwurm freundlich. »Sie müssen etwas Erde zu sich nehmen.«
»Nein danke«, sagte die Raupe, »ich bin zum Essen zu müde. Mir ist überhaupt so sonderbar. Ich will nicht mehr auf der Erde kriechen.«
»Aber ich bitte Sie«, sagte der Präsident des K.d.R. »Das ist das Leben, daß man auf der Erde kriecht und Erde ißt. Wenn man das nicht mehr kann, stirbt man. Man soll aber leben und recht lang werden. Ich kann Ihnen verschiedene Methoden empfehlen. Es ist Makrobiotik.« »Ich glaube, daß man nicht stirbt«, sagte die Raupe. »Wenn man zu müde ist und nicht mehr auf der Erde kriechen kann, verpuppt man sich, und nachher wird man ein bunter Falter. Man fliegt im Sonnenlicht und hört die Glockenblumen läuten. Ich weiß nur nicht, wie man es macht. Ich bin auch viel zu müde, um darüber nachzudenken.«
Die Regenwürmer ringelten sich aufgeregt und ratlos durcheinander.
»Fliegen? – Sonnenlicht? – Was heißt das? – So was gibt's doch gar nicht! – Sie sind wohl krank?«
»Sie gebrauchen solche kuriosen Fremdworte«, sagte der Präsident des K.d.R. »Ihnen ist einfach nicht wohl!« Die Raupe antwortete nicht mehr. Sie war zu müde. Sterbensmüde. Sie klammerte sich an den Strohhalm. Dann wurde es dunkel um sie.
Aus ihr heraus aber spannen sich feine Fäden und spannen den verstaubten sterbensmüden Körper ein. »Das ist ja eine schreckliche Krankheit«, sagten die Regenwürmer.
»Es ist ein Phänomen«, sagte der Präsident des K.d.R. »Wir wollen es beobachten.«
Einige Kapazitäten nickten zustimmend mit den Kopfringeln.