Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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Читать онлайн книгу Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst - Aristoteles страница 14
Die Bezeichnung als frei gewollt oder nicht frei gewollt kommt der Handlung also zu je nach der Situation, in der sie geschieht. Man handelt dabei frei; denn der Antrieb für die Bewegung der Glieder die als Werkzeuge dienen liegt bei derartigen Handlungen im handelnden Subjekt. Wo aber der Antrieb im Handelnden liegt, da steht es auch bei ihm, die Tat zu vollziehen oder nicht zu vollziehen, und so ist denn dergleichen gewollt, allerdings schlechthin und eigentlich nicht gewollt. Denn an und für sich würde niemand dergleichen zu tun sich vorsetzen. Für Handlungen von dieser Art erlangt man bisweilen sogar Beifall, wenn man etwas Widerwärtiges und Schmerzliches um eines bedeutsamen und hohen Zieles wegen auf sich nimmt, und man erfährt Tadel im umgekehrten Falle. Denn der müßte schon ein erbärmlicher Mensch sein, der das Schimpflichste auf sich nähme, ohne daß es durch ein hohes oder auch nur angemessenes Ziel gerechtfertigt würde.
Dann gibt es weiter Fälle, wo man, wenn auch kein beifälliges, so doch ein nachsichtiges Urteil erlangt, wenn nämlich bei einer sonst pflichtwidrigen Handlung das Motiv das ist, solchem zu entgehen, was über menschliche Kraft hinausgeht und was nicht leicht jemand auf sich nimmt. Es gibt allerdings auch solches, wozu sich zwingen zu lassen verwerflich ist, und wo es geboten ist eher zu sterben und das Furchtbarste zu erdulden. Denn solche Gründe, wie sie für Alkmäon beim Euripides den Zwang enthalten sollen zum Muttermörder zu werden, erscheinen geradezu lächerlich.
Zuweilen ist es schwer zu entscheiden, welche Handlungsweise einer einzuschlagen hat, und ob das Ziel sie rechtfertigt, oder was einer über sich ergehen lassen soll, und ob der Preis es wert ist; noch schwieriger aber ist es, nachdem man darüber ins klare gekommen ist, es nun auch durchzuführen. Denn in der Regel ist, was man zu erwarten hat, schmerzlich, und was zu tun die Not gebietet, abstoßend, und so wird einem denn Beifall oder Vorwurf zuteil, das eine Mal, wenn man dem Zwange nachgibt, und das andere Mal, wenn man ihm widersteht.
Was sind es also für Handlungen, die man auf einen Zwang zurückführen darf? Doch wohl ohne weiteres jede, bei der die Ursache draußen liegt und der Handelnde gar nicht mit tätig ist. Solche Handlungen dagegen, die an und für sich nicht frei gewollt sind, zu denen man sich aber in einer gegebenen Situation und um eines bestimmten Zieles willen entschließt, so daß der bewegende Antrieb für sie doch im Handelnden liegt, / diese sind an und für sich nicht frei gewollt, aber doch im gegebenen Augenblick und um jenes Zieles willen frei gewollt: sie zeigen daher eine größere Verwandtschaft mit den frei gewollten Handlungen. Denn alles Handeln geschieht unter ganz singulären Umständen, und mit Rücksicht auf diese sind jene Handlungen gewollt. Dagegen eine Regel darüber, wie beschaffen das Ziel sein muß, um diese bestimmte Handlungsweise rechtfertigen zu können, läßt sich nicht leicht geben; denn jede einzelne Situation ist von jeder anderen gründlich verschieden. Wollte dagegen jemand dem, was Lust bereitet oder dem sittlich Angemessenen zwingende Macht zuschreiben, / denn sie übten als Äußeres eine Nötigung, / dann allerdings wären alle Handlungen erzwungen. Denn die genannten sind die allgemeinen Motive des Handelns für alle. Eine Handlung, die einer gezwungen und wider Willen tut, die ist ihm auch schmerzlich; dagegen was man um der Annehmlichkeit und um der sittlichen Angemessenheit willen tut, das ist dem Handelnden erfreulich. Es ist also töricht, die äußeren Umstände, und nicht vielmehr sich selber deshalb anzuklagen, weil man schwach genug ist, sich durch dergleichen verlocken zu lassen. Ebenso töricht aber ist es auch, das sittlich Löbliche sich selber zuzuschreiben, das Verwerfliche dagegen auf die verführerischen Umstände zu schieben. Und so ergibt sich denn, daß aus Zwang das geschieht, was seinen Grund und Anstoß in einem Äußeren hat, ohne daß der dem Zwange Unterliegende dabei mit tätig wird.
Wir kommen zu den Handlungen, die aus Irrtum geschehen. Sie sind sämtlich nicht frei gewollt; aber wirklich unfreiwillig ist nur die Handlung, die Bedauern und Selbstanklage zur Folge hat. Wer irgend etwas auf Grund eines Irrtums getan hat, aber über seine Handlung kein Bedauern empfindet, der hat allerdings, was er im Irrtum getan hat, ohne freien Willen, aber doch auch wieder nicht ohne seinen Willen getan; sonst würde es ihm leid tun. Also als unfreiwilliger Täter gilt, wer über das im Irrtum Getane Betrübnis empfindet; wer es nicht bedauert, der mag, da sein Verhalten doch ein anderes ist, statt unfreiwillig nicht-frei-wollend heißen. Denn da in der Sache ein Unterschied vorliegt, so ist es besser, dafür auch einen eigenen Ausdruck zu gebrauchen.
Es ist ferner etwas anderes, auf Grund eines Irrtums und im Irrtum handeln. Wer in der Trunkenheit oder im Zorne handelt, von dem nimmt man nicht an, daß er auf Grund eines Irrtums, sondern daß er auf Grund eines der bezeichneten Zustände, aber doch nicht mit Bewußtsein, sondern ohne Wissen handle. Daß er kein Wissen hat von dem was man zu tun und zu unterlassen verpflichtet ist, das gilt von jedem schlechten Menschen; eben infolge einer derartigen Mangelhaftigkeit wird einer zum ungerechten und überhaupt zum schlechten Menschen. Unfreiwillig handeln aber, der Ausdruck soll nicht den Fall bezeichnen, wo einer nicht weiß was Pflicht ist. Ein Irrtum in dem was man sich zu tun ausdrücklich vorsetzt, hat zur Wirkung nicht daß man unfreiwillig, sondern daß man schlecht handelt. Was vielmehr den Irrtum ausmacht, das ist nicht die Unkenntnis der allgemeinen Regeln des Verhaltens, / denn solche Unkenntnis begründet einen Vorwurf, / sondern die Unkenntnis der Umstände des einzelnen Falles, unter denen und um derentwillen die Handlung vorgenommen wird, und dafür wird einem denn auch Mitleid und Nachsicht gewährt. Denn wer über solche besonderen Umstände sich in Unkenntnis befindet, der handelt ohne frei zu wollen.
Es wird an diesem Punkte nicht übel angebracht sein, die Umstände die dabei in Frage kommen noch genauer zu bestimmen. Ein Irrtum also kann stattfinden betreffs der Sache, ihrer Art und Bedeutung, betreffs der Person und ihrer Handlung nach Gegenstand und Material, bisweilen auch betreffs des Mittels, z.B. eines Werkzeugs, oder betreffs des Zweckes, z.B. ob etwas der Selbsterhaltung wegen geschah, und betreffs der Art und Weise, also ob sanft oder heftig. Daß einer über alle diese Umstände zugleich sich im Irrtum befindet, das könnte doch nur im Zustande der Geisteskrankheit vorkommen; so nicht über das handelnde Subjekt; denn wie könnte jemand über seine eigene Person sich täuschen? Dagegen kann man sich wohl täuschen über das, was man tut; so wenn einer sagt, er sei im Reden entgleist, weil er nicht ganz bei sich gewesen, oder er habe nicht gewußt, daß etwas auszuplaudern verboten sei, wie es Äschylus mit den Mysterien erging; oder das Geschütz sei losgegangen, während man es bloß vorführen wollte, wie der Mann mit der Katapulte. Es kann jemand auch in den Irrtum geraten, daß sein Sohn ihm feindlich gesinnt sei, wie es bei Merope der Fall war, oder daß ein Wurfspieß, der in Wirklichkeit eine Spitze hat, vorn mit einem Knopfe versehen, oder daß der Stein Bimstein sei; man kann einen töten, dem man in guter Absicht einen Liebestrank reicht, und jemanden verletzen, den man nur, wie es Ringer im Spiel tun, leise berühren will. Ein Irrtum kann betreffs aller dieser Umstände stattfinden, unter denen das Handeln sich vollzieht; und von demjenigen, der über eines davon im Irrtum gewesen ist, nimmt man an, daß er unfreiwillig gehandelt habe. Besonders aber ist dies der Fall, wenn der Irrtum die wesentlichsten Umstände betraf, und für das Wesentlichste gilt das, was den eigentlichen Gegenstand und den Zweck der Handlung ausmacht. Es gehört dann aber auch dazu, daß demjenigen, dessen Handlung wegen eines derartigen Irrtums als unfreiwillig bezeichnet wird, seine Handlung leid tut und daß sie ihm Bedauern verursacht.
Wenn nun was durch Zwang oder aus Irrtum geschieht unfreiwillig ist, so darf dem gegenüber für frei gewollt dasjenige gelten, was seinen Ursprung in einem Täter hat, der mit der eigentümlichen Beschaffenheit der Lage bekannt ist, in der die Handlung vor sich geht. Es würde also nicht zutreffend sein, wenn man als unfreiwillig das bezeichnen wollte, was im Affekt und infolge einer Begierde geschieht. Denn zunächst: bei irgendeinem der anderen lebenden Wesen könnte dann von frei gewolltem Handeln gar nicht die Rede sein, auch nicht bei den Kindern. Sodann ist die Frage: tun wir überhaupt nichts mit freiem Willen, was wir auf Antrieb einer Begierde oder im Affekt tun? oder sind nur die guten Taten frei gewollt, die schlechten Taten nicht? Wäre es nicht töricht, so zu fragen, da doch die Versuchung beide Male die gleiche ist? Und urteilslos wäre es doch auch, als nicht frei gewollt Handlungen zu bezeichnen, die aus einem pflichtmäßigen Streben entspringen;