Am Ende sterben wir sowieso. Adam Silvera
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Читать онлайн книгу Am Ende sterben wir sowieso - Adam Silvera страница 15
Rufus E. (03:21 Uhr): Egal, das Spiel ist unwichtig. Willst du gar nichts mehr machen? Worauf wartest du?
Mateo T. (03:21 Uhr): Ich habe mit potenziellen letzten Freunden geredet und sie waren … nicht so der Bringer ist noch das Netteste, was man dazu sagen kann.
Rufus E. (03:21 Uhr): Wozu brauchst du einen letzten Freund, um in den Tag zu starten?
Mateo T. (03:22 Uhr): Wozu brauchst DU einen letzten Freund, obwohl du doch Freunde hast?
Rufus E. (03:22 Uhr): Ich hab zuerst gefragt.
Mateo T. (03:22 Uhr): Okay. Ich glaube, es ist verrückt, die Wohnung zu verlassen, wenn man weiß, dass irgendwas oder IRGENDWER einen umbringen wird. Und dass da draußen außerdem »letzte Freunde« sind, die behaupten, ein Mittel gegen den Tod in ihrer Hose zu haben.
Rufus E. (03:23 Uhr): Mit dem Dödel habe ich auch gesprochen! Na ja, nicht direkt mit seinem Dödel. Aber ich hab ihn anschließend gemeldet und blockiert. Ich verspreche dir, ich bin besser als dieser Typ. Auch wenn das wahrscheinlich nicht viel zu sagen hat. Wollen wir per Video-Chat reden? Ich schick dir eine Einladung.
Das Icon einer telefonierenden Figur blinkt auf. Ich bin kurz davor, den Anruf abzulehnen, viel zu verwirrt, weil das alles so plötzlich kommt, aber dann gehe ich doch ran, bevor der Anruf weg ist, bevor Rufus weg ist. Das Display wird kurz schwarz, dann taucht ein vollkommen Fremder mit dem Gesicht auf, das Rufus in seinem Profil hat. Er schwitzt und sieht erst zu Boden, aber dann begegnen sich unsere Blicke, und ich fühle mich ausgeliefert, vielleicht sogar bedroht, als wäre er irgendeine unheimliche Sagengestalt aus meiner Kindheit, die durch den Bildschirm greifen und mich in die finstere Unterwelt zerren könnte. Zur Verteidigung meiner übersteigerten Fantasie kann ich nur sagen, dass Rufus schließlich schon versucht hat, mich aus meiner geschützten Welt in die Außenwelt zu drängen, von daher …
»Hey«, sagt Rufus. »Kannst du mich sehen?«
»Ja, hallo. Ich bin Mateo.«
»Hi, Mateo. Tut mir leid, dass ich dich mit dem Video-Chat überfallen habe«, sagt Rufus. »Aber ich finds schwierig, jemandem zu trauen, den man nicht sehen kann.«
»Kein Problem«, sage ich. Irgendwas leuchtet grell dort, wo immer er ist, aber sein hellbraunes Gesicht kann ich trotzdem gut erkennen. Warum er wohl so verschwitzt ist?
»Du wolltest wissen, warum ich meinen Freunden aus dem echten Leben einen letzten Freund vorziehe, stimmts?«
»Ja«, sage ich. »Wenn das nicht zu persönlich ist.«
»Nee, schon okay. Ich finde ›zu persönlich‹ sollte es zwischen letzten Freunden nicht geben. Um es kurz zu machen: Ich war mit meinen Eltern und meiner Schwester unterwegs, als unser Auto in den Hudson gestürzt ist und ich zusehen musste, wie sie ertrunken sind. Mit so einem Schuldgefühl zu leben, möchte ich keinem meiner Freunde zumuten. Das musste ich jetzt loswerden und sichergehen, dass es für dich in Ordnung ist.«
»Dass du deine Freunde zurücklässt?«
»Nein. Dass du vielleicht mit ansehen musst, wie ich sterbe.«
Heute habe ich echt heftige Alternativen: Es kann sein, dass ich mit ansehen muss, wie er stirbt, falls es nicht umgekehrt passiert, und bei beiden Möglichkeiten wird mir übel. Nicht, dass ich bereits eine tiefe Verbundenheit zu ihm spüre oder so was, aber die Vorstellung, dabei zuzusehen, wie irgendjemand stirbt, macht mich krank, traurig und wütend – und deshalb fragt er ja. Nur gar nichts zu tun, ist auch nicht gerade tröstlich. »Okay, das ist für mich in Ordnung.«
»Wirklich? Aber du willst doch nicht aus dem Haus gehen. Letzter Freund hin oder her, ich hab nicht vor, mich für den Rest meines Lebens bei irgendjemand in der Wohnung zu verkriechen – und das sollst du auch nicht, aber wir müssen uns irgendwo auf halbem Weg treffen, Mateo«, sagt Rufus. Die Art, wie er meinen Namen ausspricht, klingt etwas beruhigender, als der gruselige Philly es in meiner Vorstellung getan hätte; eher wie ein Dirigent, der vor einem ausverkauften Konzert eine motivierende Rede hält. »Glaub mir, ich weiß, dass es hier draußen unangenehm werden kann. Es gab Zeiten, da war ich überzeugt davon, dass nichts von alledem die Mühe wert ist.«
»Und was hat sich verändert?« Es soll nicht herausfordernd klingen, aber das ist es natürlich irgendwie. So leicht gebe ich die Sicherheit meiner Wohnung nicht auf. »Du hast deine Familie verloren, und dann?«
»Ich wollte nichts mehr vom Leben wissen«, sagt Rufus und wendet den Blick ab. »Und wäre das Spiel vorbei gewesen, hätte es mir nichts ausgemacht. Doch meine Eltern und meine Schwestern wollten etwas anderes für mich. Es ist ziemlich schräg, aber mein Überleben hat mir deutlich gemacht, dass es besser ist, am Leben zu bleiben und sich zu wünschen, man wäre tot, als zu sterben und sich zu wünschen, man könnte ewig leben. Wenn ich alles verlieren und trotzdem meine Einstellung ändern kann, musst du das auch tun, bevor es zu spät ist, Alter. Du musst aufs Ganze gehen.«
Aufs Ganze gehen. Das habe ich in meinem Profil geschrieben. Er war aufmerksamer als die anderen und interessiert sich so für mich, wie es ein Freund tun sollte.
»Okay«, sage ich. »Wie wollen wir das machen? Gibts einen Handschlag oder so was?« Ich hoffe wirklich, dass mein Vertrauen nicht wieder enttäuscht wird wie früher.
»Wir können uns die Hand geben, wenn wir uns sehen, aber bis dahin verspreche ich, dass ich deinem Luigi der Mario sein werde, aber ohne derart im Rampenlicht zu stehen. Wo wollen wir uns treffen? Ich bin hier bei der Tankstelle südlich von …«
»Unter einer Bedingung«, sage ich. Er kneift die Augen zusammen, wahrscheinlich beunruhigt ihn die überraschende Wendung. »Du hast gesagt, ich soll dich auf halbem Weg treffen, aber du musst mich zu Hause abholen. Es ist keine Falle, versprochen.«
»Klingt aber ziemlich nach Falle«, sagt Rufus. »Da suche ich mir besser einen anderen letzten Freund.«
»Wirklich nicht! Echt.« Ich lasse beinahe das Handy fallen. Ich habe alles versaut. »Ehrlich, ich …«
»Ist nur Spaß, Alter«, sagt er. »Ich schick dir meine Nummer, dann kannst du mir deine Adresse schreiben. Und anschließend überlegen wir, was wir machen.«
Ich bin genauso erleichtert, wie als der Todesbote mich Timothy genannt hat und ich dachte, ich hätte Glück gehabt und könnte noch länger leben. Nur dass ich mich diesmal wirklich ganz entspannen kann – glaube ich. »Alles klar«, sage ich.
Rufus verabschiedet sich nicht, sieht mich nur noch einen Moment an, als würde er mich abschätzen oder sich vielleicht fragen, ob ich ihn nicht doch in eine Falle locke.
»Wir sehn uns, Mateo. Versuch am Leben zu bleiben, bis ich bei dir bin.«
»Versuch am Leben zu bleiben, bis du hier bist«, sage ich. »Pass auf dich auf, Rufus.«
Rufus nickt und beendet den Video-Chat. Er schickt mir seine Handynummer und ich will ihn schon fast anrufen, um sicherzugehen, dass wirklich er rangeht und nicht irgendein unheimlicher Typ, der ihn dafür bezahlt, die Adressen wehrloser Jungs zu sammeln. Aber wenn ich Rufus weiter misstraue, wird die Sache mit dem letzten Freund nichts werden.
Ich bin etwas besorgt, meinen Abschiedstag mit jemandem zu verbringen, der den Tod akzeptiert