In Fesseln. John Galsworthy

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In Fesseln - John Galsworthy Forsyte

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Beauce. Und, Mamsell – war die Predigt gut?«

      Denn nun, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wurde all sein noch übriges Interesse für die Kirche einzig von jenem Teil des Gottesdienstes beansprucht, der mit dieser Welt zusammenhing. Mamsell Beauce streckte eine spinnenartige Hand in einem schwarzen Ziegenlederhandschuh aus – sie war in den besten Familien gewesen – und die recht traurigen Augen in ihrem hageren gelblichen Gesicht schienen zu fragen: »Sind Sie wohlerzogään?« Wann immer Holly oder Jolly etwas taten, das ihr nicht gefiel – was nicht selten vorkam ‒, sagte sie zu ihnen: »Die Tayleur-Kinder haben das nie gemacht ‒ sie waren ja so wohlerzogenää Kinderchen.« Jolly hasste die Tayleur-Kinder, Holly fragte sich verzweifelt, warum sie nur so gegen sie abfiel. ›Ein dünnes, kauziges Ding‹, dachte der alte Jolyon über sie, Mamsell Beauce.

      Das Mittagessen war eine gelungene Mahlzeit. Die Pilze, die er selbst im Pilzgewächshaus ausgesucht hatte, die Erdbeeren, die er gepflückt hatte, und eine weitere Flasche des Steinberger Kabinetts erfüllten ihn mit einer gewissen aromatischen Spiritualität und dem Gefühl, dass er morgen ein leichtes Ekzem haben würde.

      Nach dem Mittagessen nahmen sie unter der Eiche Platz, um türkischen Kaffee zu trinken. Er war nicht traurig, als Mamsell Beauce sich zurückzog, um ihren Sonntagsbrief an ihre Schwester zu schreiben, deren zukünftige Existenz in der Vergangenheit durch das Verschlucken einer Nadel in Gefahr gewesen war – eine Geschichte, die den Kindern täglich als warnendes Beispiel vorgehalten wurde, damit sie langsam äßen und das Gegessene verdauten. Am Fuße der Böschung neckten Holly und der Hund Balthasar sich liebevoll auf einer Kutschendecke, und im Schatten rauchte der alte Jolyon genussvoll mit überschlagenen Beinen seine Zigarre und betrachtete Irene, die auf der Schaukel saß. Eine graziöse, sanft hin und her wiegende graue Gestalt, hie und da von Sonnenlicht beschienen, die Lippen leicht geöffnet, die Augen dunkel und sanft unter leicht gesenkten Lidern. Sie sah zufrieden aus. Bestimmt tat es ihr gut, ihn hier zu besuchen! Die Altersselbstsucht hatte ihn noch nicht wirklich gepackt, denn er konnte sich noch immer an der Freude anderer erfreuen, weil ihm bewusst war, dass seine eigenen Wünsche zwar wichtig, aber nicht alles waren.

      »Es ist ruhig hier«, sagte er. »Du musst nicht herkommen, wenn du es langweilig findest. Aber es ist eine Freude, dich zu sehen. Das Gesicht meiner lieben Kleinen ist das einzige, das mir Freude macht, neben deinem.«

      Ihr Lächeln sagte ihm, dass sie sich durchaus noch über Anerkennung freute, und das beruhigte ihn. »Das ist nicht nur leeres Geschwätz«, sagte er. »Ich habe einer Frau nie gesagt, dass ich sie bewundere, wenn es nicht auch so war. Um genau zu sein, weiß ich nicht, wann ich überhaupt einer Frau gesagt habe, dass ich sie bewundere, außer früher meiner Frau. Und Ehefrauen sind seltsam.« Er schwieg, fuhr dann jedoch abrupt wieder fort:

      »Sie hat immer von mir erwartet, dass ich es öfter sagte, als ich es fühlte, das war das Problem.« Ihr Gesicht sah auf rätselhafte Weise sorgenvoll aus, und beunruhigt, dass er etwas Schmerzliches gesagt haben könnte, redete er schnell weiter: »Wenn meine liebe Kleine heiratet, hoffe ich, dass sie jemanden findet, der weiß, was Frauen fühlen. Ich werde nicht mehr hier sein, um es zu sehen, aber die Ehe beinhaltet zu viel Durcheinander. Ich will nicht, dass sie dagegen ankämpfen muss.« Und weil ihm bewusst war, dass er es nur noch schlimmer gemacht hatte, fügte er hinzu: »Der Hund muss sich aber auch die ganze Zeit kratzen.«

      Es folgte Schweigen. Woran dachte sie, dieses schöne Wesen, dessen Leben ruiniert war, das fertig war mit der Liebe, und das doch für die Liebe gemacht war? Eines Tages, wenn er tot war, würde sie vielleicht einen neuen Partner finden – einen, der nicht so ein Chaot war wie dieser junge Kerl, der sich überfahren hatte lassen. Ach, aber was war mit ihrem Ehemann?

      »Macht Soames dir nie Probleme?«, fragte er.

      Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich verschloss sich ihr Gesicht. Bei all ihrer Sanftheit hatte sie doch auch etwas Unversöhnliches an sich. Und für einen kurzen Moment wurde einem Gehirn, dessen Denkweise der frühen viktorianischen Zivilisation entstammte ‒ so viel älter als die seines hohen Alters ‒ und folglich noch nie über solch primitive Dinge nachgedacht hatte, Einblick gewährt in die unerbittliche Natur sexueller Antipathie.

      »Das ist beruhigend«, sagte er. »Heute kann man die Tribüne sehen. Wollen wir eine Runde gehen?«

      Er führte sie durch den Blumen- und den Obstgarten, an dessen hohen Außenmauern der Sonne zugewandt Pfirsichbäume und Nektarinen gepflanzt worden waren, durch die Ställe, das Gewächshaus für Weinreben, das Gewächshaus für Pilze, die Spargelbeete, den Rosengarten, das Gartenhaus – sogar zum Gemüsegarten, um die kleinen grünen Erbsen anzusehen, die Holly so gerne mit ihren Fingern aus den Hülsen pulte und aus ihren kleinen braunen Händen aß.

      Er zeigte ihr viele schöne Dinge, während Holly und der Hund Balthasar vorneweg hüpften und nur hin und wieder zu ihnen kamen, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Es war einer der glücklichsten Nachmittage, die er je erlebt hatte, doch er machte ihn müde, und er war froh, sich im Musikzimmer setzen zu können und sich von ihr Tee einschenken zu lassen.

      Eine besondere kleine Freundin von Holly war vorbeigekommen – ein blondes Mädchen mit Haaren so kurz wie die eines Jungen. Die beiden tollten in der Ferne herum, unter der Treppe, auf der Treppe, oben in der Galerie. Der alte Jolyon bat sie, etwas von Chopin zu spielen. Sie spielte Etüden, Mazurkas, Walzer, bis die beiden Kinder herbeigeschlichen kamen und am Klavierende standen, wo sie lauschten, den dunklen und den goldenen Schopf nach vorne gebeugt.

      Der alte Jolyon beobachtete die Szene.

      »Tanzt doch mal für uns, ihr zwei!«

      Schüchtern und mit einem falschen Schritt fingen sie an.

      Hopsend und kreisend tanzten sie mit ernstem Ausdruck und nicht sehr geschickt zu der Melodie des Walzers immer wieder an seinem Stuhl vorbei.

      Er beobachtete die beiden und das Gesicht von Irene, die sich mit einem Lächeln zu den kleinen Tänzern umdrehte, und dachte: ›So ein süßes Bild habe ich schon lange nicht mehr gesehen.‹

      Eine Stimme war zu hören: »Hollee! Mais enfin – qu’est-ce que tu fais la – danser, le dimanche! Viens, donc!«

      Doch die Kinder kamen zum alten Jolyon, denn sie wussten, dass er ihnen helfen würde, und sie blickten in ein Gesicht, das eindeutig nach ›ertappt‹ aussah.

      »Je besser der Tag, desto besser die Tat, Mamsell. Das geht alles auf meine Kappe. Ab mit euch, ihr Küken, trinkt euren Tee!«

      Und als sie weg waren und mit ihnen der Hund Balthasar, der keine Mahlzeit ausließ, sah er Irene mit einem Zwinkern an und sagte: »Na, sind sie nicht süß? Sind unter deinen Schülern auch ein paar kleine?«

      »Ja, drei – zwei davon sind echte Engel.«

      »Sind sie niedlich?«

      »Allerliebst!«

      Der alte Jolyon seufzte. Er konnte einfach nie genug kriegen von den ganz Jungen. »Meine liebe Kleine«, sagte er, »liebt Musik. Sie wird mal eine Musikerin werden. Du möchtest mir nicht deine Meinung sagen, wie sie spielt, oder?«

      »Doch, natürlich.«

      »Du würdest ihr nicht …« Doch er verkniff sich die Worte: »Unterricht geben wollen, oder?« Der Gedanke, dass sie Unterricht gab, gefiel ihm nicht. Und doch würde es bedeuten, dass er sie regelmäßig sehen könnte. Sie verließ ihren Platz am Klavier und kam hinüber zu seinem Stuhl.

      »Das würde ich sehr gerne, die Sache ist nur – June. Wann kommen sie denn zurück?«

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