Ein Kerl wie Samt und Seide. Will Berthold
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»Ich bin Deutscher«, erwiderte der Besucher und präsentierte sein Permit, das der Dolmetscher mit übertriebener Gründlichkeit las.
»Sie können sich ausweisen?«
Der Reisepaß, den Peter Maletta vorwies, war längst abgelaufen, und doch eine Rarität. Der Dolmetscher betrachtete das Paßbild genau; provisorische Personal-Papiere des Jahres 45 waren im allgemeinen mit Fingerabdrücken unterschrieben.
»Ich komme im Auftrag von –«
»Leider momentan recht ungelegen, Herr Maletta«, unterbrach ihn der Dolmetscher. »Es hat hier gerade einen – einen Zwischenfall gegeben. Solange er nicht geklärt ist, darf niemand das Gelände betreten oder verlassen.« Er betrachtete den Mann in der Windbluse wieder und stellte fest, daß er entschlossen wirkte, wie einer, der auf ein Ziel fixiert ist und kein Mittel auslassen würde, es zu erreichen.
»Dann möchte ich mit Lieutenant-Colonel Williams – oder mit Colonel Rice sprechen.«
»Warum nicht gleich mit General Patton?« spottete der Dolmetscher: »Oder mit dem lieben Gott.«
Er ging in das Wachhäuschen und telefonierte, erschrocken über seine Dreistigkeit, denn zwischen dem lieben Gott und General George S. Patton jr. schien es zur Zeit tatsächlich kaum Unterschiede zu geben.
Maletta mußte zur Seite springen. In forciertem Tempo verließen vier Jeeps hintereinander das Westtor. Die Polen hatten kein Recht, US-Soldaten zu filzen, dafür war die Militär-Polizei zuständig, aber der Sergeant mit der blauen MP-Armbinde, dem weißen Koppel und dem weißen Helm winkte sie lässig durch. In jedem Wagen saß nur der Fahrer; an jedem Wagen waren vier Kanister aufgeschnallt. Keine Frage, daß sie gefüllt waren. Keine Frage, daß sie nach der Rückkehr leer wären, wiewohl die Fahrtstrecke nur ein paar Meilen betragen würde. Das Verfahren war gängig und einleuchtend, ob man es nun fifty-fifty oder halbe-halbe nannte. Die Alabama-Soldaten hatten die altrömische Devise: ›Divide et impera‹ in die Praxis übersetzt: Teile mit der MP und füll’ dir die Tasche.
Der Dolmetscher kam zurück: »At three o’clock«, rief er dem Ungebetenen zu und wies drei Finger vor, als verstünde der Mann ihn sonst nicht.
Peter Maletta nickte. Daß man ihn zweieinhalb Stunden warten ließ, war natürlich eine Schikane, aber sie verärgerte ihn nicht. Er hatte einen langen Weg hinter sich und vermutlich einen noch längeren vor sich, aber keine Hürde würde jemals seinen Hindernislauf aufhalten, eine offene Rechnung mußte saldiert werden.
Er ging auf seinen Jeep zu, um einzusteigen. Dann überlegte er es sich anders und schlenderte mit seinem saloppen, fast ein wenig tänzelnden Gang zu Fuß weiter. Er ging in nördlicher Richtung, in der Art eines Müßiggängers, der sich bei diesem prächtigen Wetter die Beine vertritt, einer, der einen Gönner bei der Militärregierung hat oder ein Schieber ist, oder auch nur ein Mann, dessen Frau mit einem Ami-Offizier schlief, auch wenn er so aussah, als würde er letzteres selbst besorgen.
Die Sonne stand jetzt im Zenit. Sie hing über ganz Deutschland; die Schönwetterbrücke wölbte sich vom Atlantik bis zum Ural. Die Sonne schien in Hamburg wie in Breslau, in Dresden wie in Berlin. Sonne gab es gratis und reichlich; sie verlangte keinen Bezugsschein; man mußte um sie nicht Schlange stehen und man brauchte sich auch nicht nach ihr zu bücken. Der helle Schein spiegelte sich auf den weißen Helmen der Militär-Polizisten, lockte die Alten aus den Ruinenkellern, er flirrte vor den Augen der Sowjetsoldaten, die Radfahren lernten und Uhren klauten. Die Sonne lachte den Menschen hinter Stacheldraht, erhellte trostlose Flüchtlingsbaracken, verklärte die eingefallenen, vergreisten Gesichter unterernährter Großstadtkinder und erreichte auch noch die Zellen von Landsberg mit den Rotjacken, die im Morgengrauen gehängt würden.
Maletta schlenderte an der riesigen Außenmauer des Alabama-Depots zwischen der Schleißheimer und der Knorrstraße entlang, ein Mann, den die Vorstellung von dem schwerbewachten Schlaraffenland innerhalb der Umzäunung nicht überforderte.
Münchens Norden war zum Wilden Westen der bayerischen Landeshauptstadt geworden. In der Nähe überfüllter riesiger Kasernen der Isar-Metropole lagen als erste Station beim Ausgang die 338 Einfamilienhäuschen der Siedlung am hart und die 221 der Kaltherberge, und die 559, nicht selten töchterreichen Familien, waren seit ihrem Einzug daran gewöhnt, an die 20000 Soldaten über sich ergehen zu lassen. Die Uniformen hatten zwar gewechselt, aber die Bedürfnisse waren ebenso gleich geblieben wie die Einschußlöcher am Gasthof Stuka. Schon vor dem Krieg hatte es hier die ersten Toten der deutschen Wiederaufrüstung gegeben: Zehn Soldaten waren bei Wirtshausschlägereien um die Siedlungsmädchen erstochen, erschossen und erschlagen worden, ohne daß die Öffentlichkeit darüber informiert worden wäre.
Stuka war in Kasernennähe das einzige Tanzlokal gewesen, frequentiert von den Fliegern des Horstes Schleißheim, von Soldaten der ›Leibstandarte Adolf Hitler‹ und von Flakartilleristen. Jetzt war die Kneipe der einzige deutsche Stuka, der noch flog, freilich nicht mehr mit Hitlers arischen Prätorianern, sondern vorwiegend mit reinrassigen US-Neger-Soldaten. Es gab wiederum Tote und – neue Einschußlöcher.
Peter Maletta hatte nach einer Stunde fast das ganze Sperrgelände umgangen, war wieder an der Schleißheimer Straße angekommen und fragte sich, wie er weitere 90 Minuten totschlagen könnte. Er blieb einen Moment lang stehen, orientierte sich, überquerte die Straße und ging dann auf den Pulverturm zu; auf dieser Höhe das einzige Gebäude auf der linken Straßenseite.
Er öffnete die Tür der Gaststube.
Der Mief traf ihn wie ein Fausthieb. Der Rauch beizte seine Augen und machte ihn einen Moment lang blind. Der Raum war überfüllt mit Gästen, die sich vor der Sonne drückten. Mit seinen blanken, massiven Holztischen, seinen furnierten Wänden und den Brettern an der Decke, wirkte die Gaststätte wie eine nachgebaute Almhütte. Auf der Wand stand der alberne Sinnspruch:
Auf der alm da gibt’s koa sünd.
Gleich daneben drohte der Provost-Marshall der Militär-Polizei:
Vulgarity will not be tolerated
Es war ein Witz, daß hier, auf dieser Pseudo-Alm, wo man wohl jede Sünde handelte, vor Gewöhnlichkeit gewarnt wurde.
»Getaway!« rief ein gedrungener GI, der an einem Tisch mit grell verschminkten Mädchen saß, dem Mann im militanten Zivil zu.
»Wirf ihn raus, Charly, bevor es Ärger gibt«, sagte die rote Ria zu dem Kellner.
Maletta dachte nicht daran, abzuhauen, und der Kellner, ein fixer Junge in einer schmuddeligen Servierjacke, trat ihm in der Mitte des Raumes entgegen.
»Mann o Mann«, sagte er: »Haste dir wohl verloofen? Wat biste nu’, ’n Selbstmörder oder ’n Schwuler?«
»Weder noch«, erwiderte der Adrette: »Vielleicht ein Landsmann von Ihnen.«
»Hau bloß ab, Mann!« forderte ihn Charly auf. »Hier is’ vielleicht wat los. Und auf Männer sind die hier nicht scharf, auf deutsche schon gar nicht! Gotta sister, Mister?« imitierte er dann die Amis und lieferte seine hausgemachte Übersetzung gleich nach: »Hast’ ’ne Schwester, Bester?«
»Keine Sister, aber Zaster«, entgegnete Maletta.
»Das is’ ’ne Basis«, erwiderte Charly und wies auf den einzigen Tisch, an dem noch ein Stuhl frei war. »Aber ich garantier’ für nischt«, setzte er hinzu.