Toxische Männlichkeit. Sebastian Tippe
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Jungen lernen ihre als unmännlich geltenden Unsicherheiten und Emotionen zu verdrängen und zu ignorieren. Die daraus resultierenden Ambivalenzen sind ein perfekter Nährboden für Gewalt, Wut, Aggressionen und Gewalt gegen sich selbst und gegen andere.
Jens van Tricht (2019, S. 113 ff.) schlüsselt den Teilaspekt der permanenten sexuellen Bereitschaft von Männern im patriarchalen Geschlechterkontext, bei dem sich mehrere der genannten Aspekte männlicher Sozialisation miteinander verschränken, wie folgt auf: „Der bloße Besitz eines Penis reicht vielen Männern noch nicht. Er muss auch eine Erektion bekommen können. Und mit besagter Erektion müssen Männer schließlich etwas tun. Sex haben, und zwar nicht einfach irgendeinen Sex, sondern Heterosex. Und damit sind wir noch nicht am Ende der Forderungen. Es muss schon richtiger Beischlaf sein, also mit Penetration. Alle anderen Formen des Heterosexes werden doch in erster Linie als ‚Vorspiel‘ für das eine, das richtige, das wirklich Männliche gesehen. Und damit nicht genug, denn auch wenn gevögelt wird, müssen Männer darin eine aktive Rolle spielen. Ein Mann wird nicht gevögelt. Ein Mann vögelt! […] Männlichkeit als Konstrukt, als Performance, als Idee, der wir alle dauernd Gestalt, Inhalt und Bedeutung verleihen, ist eng mit dem gesellschaftlichen Verständnis von (Hetero-)Sexualität verbunden. Männer bekommen, was Frauen und Sex betrifft, eine simple Botschaft mit auf den Weg: Wenn du mit einer Frau zusammen bist, musst du immer Lust haben. Wenn du Lust auf Sex hast, musst du immer einen Steifen bekommen. Wenn du einen Steifen hast, muss immer penetriert werden. Und dafür braucht ein Mann dann – in vielen Fällen – eine Frau. Aber was tun, wenn er zwar Lust auf Sex hat, sie aber nicht? Keine Lust auf Sex zu haben, wird dann zu einem Problem gemacht, da Lust auf Sex zu haben schließlich die (männliche) Norm ist.“
Dabei steht die männliche Befriedigung im Zentrum, aber nicht die Befriedigung der Frau oder eine gleichberechtigte befriedigende Erfahrung. In den Kapiteln über Männer und Sexualität wird dies weiter vertieft.
Schnerring und Verlan (2014, S. 119) konstatieren: „Ein Zusammenspiel von Bildern in Werbung und Fernsehprogramm, Spielzeugauswahl, Aufschriften auf T-Shirts, Kommentare beim Essen und vieles mehr halten das Klischee des starken Mannes am Leben. Die Verbreitung verzerrter und unrealistischer Männermodelle führt dazu, dass mit einem gesunden Männerkörper fast ausschließlich Fitness, Kraft und Ausdauer verbunden werden, eben alles was hart macht.“ Dies erklärt, warum Jungen und Männer sich durch Begriffe wie „Schlappschwanz“ abgewertet fühlen: Wer Erwartungen an die männliche Geschlechterrolle nicht erfüllt, ist somit unmännlich und erhält dementsprechende Bewertungen. Wenn du dich nicht so und so verhältst, dann bist du unmännlich und somit nicht potent. Sport spielt daher für viele Jungen eine wichtige Rolle. Sie gehen oftmals sportlichen Aktivitäten nach und besuchen ab einem gewissen Alter Fitnessstudios oder nutzen, wenn sie beispielsweise noch nicht alt genug sind oder sich dies nicht leisten können, Geräte zu Hause. Die eigene Gesundheit steht dabei selten im Vordergrund.
Guido Zurstiege (2001, S. 213) schreibt dazu: „Am Beispiel der Bedeutung des Sports für die Zurschaustellung von Männlichkeit tritt dieses Spannungsverhältnis besonders deutlich zu Tage. Denn auf der einen Seite bieten sich mit der Darstellung sportlicher Aktivitäten neue Gelegenheiten, den männlichen Körper in Szene zu setzen. Auf der anderen Seite bietet jede Form der sportlichen Betätigung ebenso ausreichend Gelegenheit, Leistung und Leistungsfähigkeit – zwei wesentliche Komponenten traditioneller Männlichkeit – zu demonstrieren.“
Jungen verfolgen das Ziel, dem männlichen „Idealbild“ so nahe wie möglich zu kommen. Damit versuchen sie, Unsicherheiten zu verstecken und zu kompensieren, sie versuchen, sich dadurch sicher und selbstbewusst zu fühlen, die Kontrolle – auch über den eigenen Körper – zu haben, das Gefühl, durch körperliche Überlegenheit andere Menschen einschüchtern und notfalls auch durch Körperkraft besiegen zu können. Zudem ist der Begriff des Körperpanzers hier entscheidend: Der Aufbau von Muskulatur fungiert als Schutz und versteckt das dahinterliegende unsichere Ich der Jungen und Männer. Auch hier verlaufen die „Ideale“ und Sozialisationen von Jungen und Mädchen diametral zueinander: Während Jungen Körpermasse aufbauen, um stark und unangreifbar zu erscheinen und viel Raum einzunehmen, sollen Mädchen besonders dünn sein, wenig, klein und unsichtbar und möglichst wenig Raum einnehmen. Ergänzt wird dies dadurch, dass Jungen und Männer häufig Kampfsporttechniken erlernen sowie Waffen besitzen und diese auch benutzen.
Jungen haben eine durch die Umwelt und durch die Medien geprägte Sehnsucht danach, besonders und außergewöhnlich zu sein. Ein Held. Diese Sehnsucht verschränkt sich mit dem kaum zu erreichenden männlichen „Idealbild“, welches sie permanent versuchen zu erreichen, sowie mit den selbst gemachten Opfererfahrungen. Denn: Jungen und Männer sind selbst häufig Opfer von Gewalt – fast ausschließlich durch andere Jungen und andere Männer. Daraus ergibt sich für sie die Ambivalenz, nicht so zu sein, wie sie glauben, sein zu müssen, selbst aber Ohnmachtserfahrungen zu erleben. Um diese Ohnmachtserfahrungen zu überwinden, werden viele Jungen selbst Täter und leben so in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zwischen Täter- und Opfererfahrung.
Die wenigsten Männer entsprechen jedoch dem männlichen „Idealbild“. Trotzdem profitieren die meisten Männer von den patriarchalen Strukturen hegemonialer Männlichkeit. Dieses Phänomen nennt Connell (vgl. 1995) die „patriarchale Dividende“. Einhergehend mit der Vorstellung, besonders und außergewöhnlich sein zu wollen, werden dazu ganz im Sinne patriarchaler Machtverhältnisse Zuschauerinnen benötigt, „die dem Mann das vergrößerte Bild seiner selbst zurückwerfen, dem er sich angleichen soll und will“ – Virginia Woolf spricht dabei von „schmeichelnden Spiegeln“ (vgl. Bourdieu 1997, S. 203).
An dieser Stelle möchte ich von einem persönlichen Erlebnis berichten, um zu verdeutlichen, wie Jungen und Männer Weiblichkeit abwerten, um sich selber aufzuwerten: Als ich zusammen mit einem Hilfstrainer vor einigen Jahren Training gab, beschimpfte mein Kollege bei einem Aufwärmspiel die jugendlichen Jungen, wenn sie einen Gegenpunkt zuließen, mit den Worten: „Ihr Pussies!“ Auf Grund der dargelegten Mechanismen männlicher Sozialisation wird dabei deutlich, aus welchen Gründen diese Formulierungen als Beleidigung für Jungen funktionieren: Der Trainer spricht den Jungen durch seine sexistische Zuschreibung ihre vermeintliche Männlichkeit ab, mehr noch betitelt er sie bei Misserfolg als weiblich und als weibliches Geschlechtsorgan. Gleichzeitig bedeutet dies, dass nur der Sieg männlich sein kann, da der Misserfolg mit Weiblichkeit assoziiert wird. Dies trifft die Jungen tief in ihrer Angst und Unsicherheit, nicht so zu sein, wie es von ihnen erwartet wird: nämlich männlich und vor allem nicht weiblich, da Weiblich-Sein mit Schwach-Sein gleichgesetzt wird. Dies hat natürlich nicht nur für die Jungen, sondern auch für die Mädchen einen nachhaltigen negativen Effekt – vor allem, da sie täglich mit Zuschreibungen und Stereotypen konfrontiert werden. Dabei entsteht bei den Jungen die Angst, sozial ausgegrenzt und abgelehnt zu werden, woraufhin sie sich oft noch übergriffiger, aggressiver und rücksichtsloser verhalten.
Was ist toxische Männlichkeit?
Toxische Männlichkeit beschreibt problematische Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen, die sozialisationsbedingt an die traditionelle Männerrolle gekoppelt und eng mit patriarchalen Strukturen und hegemonialer Männlichkeit verknüpft sind und mit denen Jungen und Männer anderen und/oder sich selbst kurzfristig, mittelfristig oder auch langfristig schaden, andere diskriminieren, ausschließen und benachteiligen.
Die bereits vorgestellten Aspekte männlicher Sozialisation bereiten den Nährboden für toxisches Verhalten von Jungen und Männern oder sind bereits toxisch. Zunächst eine gute Nachricht: Da Geschlecht vor allem eine soziale Kategorie ist, kann toxische Männlichkeit, also problematische