Aristoteles. Eine Einführung. Wolfgang Detel

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Aristoteles. Eine Einführung - Wolfgang Detel Reclams Universal-Bibliothek

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Erklärung erfunden.

      Wir können nun den letzten Schritt im Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie Aristoteles sich ihn vorstellt, leicht beschreiben: Unter allen Deduktionen, die in einer vollständigen Analyse auftauchen, müssen diejenigen ausgewählt werden, die zugleich Demonstrationen und damit deduktive wissenschaftliche Erklärungen sind – deren zweite Prämisse sich folglich als eine der aristotelischen Ursachen klassifizieren lässt.

      [38]Aristoteles bemerkt des Öfteren, dass die Einsicht in die obersten Prinzipien oder Definitionen das höchste Ziel wissenschaftlicher Aktivität ist und dass sich die obersten Prinzipien oder Definitionen nicht selbst noch einmal demonstrieren lassen (APo. I 2; II 19). Wir dürfen diese logisch triviale Bemerkung nicht missverstehen – so als wollte er sagen, dass wir die obersten Prinzipien und Definitionen direkt und unmittelbar, also ohne weitere rationale Begründung, erfassen könnten. Ganz im Gegenteil können wir sie nach Aristoteles nur am Ende eines zum Teil langen Begründungsganges erkennen.

      Allerdings unterscheidet er verschiedene Arten von Prinzipien (APo. 1 2). Die wichtigste Art sind die obersten erklärungskräftigen Prämissen, die an der Spitze einer ausgearbeiteten wissenschaftlichen Theorie stehen. Einige dieser Prinzipien nennt Aristoteles auch Definitionen, und zwar jene, die syllogistisch konvertieren und somit wahre syllogistische Sätze der Form AaB sind, für die auch die Umkehrung BaA wahr ist. Natürlich handelt es sich dabei nicht um Definitionen im modernen Sinne – also nicht um bloße analytische Sätze oder Analysen von Wortbedeutungen, sondern um empirisch oder mathematisch gehaltvolle Sätze über die Welt. Prinzipien dieser Art können trivialerweise nicht selbst demonstriert werden, d. h., sie könnten nicht innerhalb der Theorienkonstruktion deduktiv erklärt werden. Aber ein Erfassen dieser Prinzipien setzt ersichtlich die Konstruktion einer abgeschlossenen Theorie voraus; erst nach der Theorienkonstruktion können wir erkennen, welche universellen Sätze in ihrem Gegenstandsbereich Definitionen sind. Daher sind genau diejenigen vielfältigen Gründe, die für die Konstruktion und [39]Annahme einer Theorie im Ganzen sprechen, auch die Gründe, die dem Postulat ihrer Definitionen zugrunde liegen. In diesem Sinne ist das Erfassen dieser Art von Definitionen nicht unbegründet. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, dass die Angabe oberster Definitionen und oberster erklärungskräftiger konvertierbarer Prämissen in Analysen auf dasselbe hinausläuft (APo. II 10).

      Wenn wir eine wissenschaftliche Theorie konstruieren, müssen wir nach Aristoteles auch davon ausgehen können, dass die fundamentalen Gegenstände, die mithilfe der Theorie untersucht werden sollen, tatsächlich existieren: etwa das Heiße und Kalte in der Physik, die natürlichen Arten von Tieren in der Biologie oder Kreis und Gerade in der Geometrie (APo. I 10). Prinzipien dieser Art heißen Hypothesen. Im Einzelfall sind auch die Hypothesen begründungsbedürftig – als Existenzannahmen naheliegenderweise im Rahmen der ersten Philosophie oder Ontologie. Beispielsweise ist es Aufgabe der Ontologie zu zeigen, ob und in welchem Sinne fundamentale geometrische Gegenstände oder lebende Organismen existieren (Metaph. XIII).

      Und schließlich benutzen wir zum Aufbau einer Theorie logische Regeln, gelegentlich auch mathematische Formeln. Diese Voraussetzungen sind im Gegensatz zu Definitionen und Hypothesen nicht spezifisch für bestimmte Wissenschaften oder Theorien, sondern kommen gleichermaßen in allen Wissenschaften vor. Prinzipien dieser dritten Art nennt Aristoteles Postulate (griechisch Axiome). Ihre Begründung erfolgt im Rahmen der formalen Logik und Mathematik.

      Von allen drei Prinzipienarten lässt sich also sagen, dass sie zwar nicht demonstrierbar und in diesem strengen [40]Sinne nicht erklärbar sind, dass sie aber in einem weniger strengen Sinne nicht nur begründbar, sondern sogar begründungsbedürftig sind. Von einem unmittelbaren Erfassen der Prinzipien kann im Rahmen der aristotelischen Wissenschaftstheorie nicht die Rede sein.

      Aristoteles war zweifellos davon überzeugt, dass es selbst für endliche menschliche Wesen prinzipiell möglich ist, die Wahrheit und oberste Prinzipien zu erfassen; in diesem Sinne war er kein Skeptiker. Zugleich betont er jedoch, dass es schwierig ist zu wissen, ob wir etwas wirklich wissen (APo. I 9). Tatsächlich vertritt er die Auffassung, dass endliche menschliche Wesen in ihrem ehrlichen Bemühen um Wissen in der Regel einer Reihe von Irrtümern ausgesetzt sind und nie endgültig sicher sein können, die Wahrheit ein für alle Mal erfasst zu haben. Im einfachsten Fall können wir induktiv etablierte universelle Sätze der Form AaB nur so lange für wahr halten, wie wir empirisch kein B-Ding entdecken, das nicht A ist. Und wenn wir behaupten, dass eine universelle Prämisse der Form AaB unvermittelt, d. h. nicht weiter deduzierbar oder demonstrierbar ist, dann können wir diese Behauptung nur so lange aufrechterhalten, wie wir empirisch keine Eigenschaft C entdecken derart, dass die universellen Sätze AaC und CaB wahr sind. Sofern wir also nicht allwissend sind und einige Fakten im Kosmos noch nicht kennen – und davon ging Aristoteles mit Sicherheit aus (APo. I 12, 78a) –, können wir nicht ausschließen, dass sich unsere bislang empirisch gut gestützte Behauptung, universelle Sätze seien wahr oder unvermittelt, aufgrund der Entdeckung weiterer Fakten am Ende noch als falsch erweist.

      Aristoteles hat sich auch mit der Logik der Widerlegung [41]universeller Sätze beschäftigt: mit dem Irrtum durch Deduktion (APo. I 16–17). Wenn wir aus zwei Prämissen in logisch korrekter Weise eine Konklusion deduzieren, die sich als falsch erweist, dann, so Aristoteles, können nicht beide Prämissen zugleich wahr sein. In diesem Fall müssen wir zu klären versuchen, welche der beiden Prämissen falsch ist. Tatsächlich verwendet Aristoteles verschiedentlich selbst dieses Widerlegungsverfahren, indem er gegen gewisse Theorien seiner Vorgänger geltend macht, dass aus diesen Theorien falsche Konklusionen logisch korrekt folgen (Cael. III 7, 306a; II 13, 293a; II 14, 297a; Metaph. XII 8, 1073b–1074a). Und er weist auf eine Reihe weiterer Fehlerquellen beim wissenschaftlichen Arbeiten hin, von denen nicht alle leicht zu entdecken sind, beispielsweise auf zirkuläre Demonstrationen (APo. I 3), auf die Etablierung von Definitionen unabhängig von geeigneten Demonstrationen (APo. II 3–7), auf die falsche Meinung, platonische Begriffsteilungen wären logisch gültige Schlüsse (APo. II 5), oder auf die unzutreffende Vorstellung, es gäbe für jedes universelle Faktum genau eine einschrittige Demonstration (APo. II 16–18).

      In den Analytiken findet sich auch die These, dass eine wissenschaftliche Theorie Prinzipien aufstellt, die immer wahr und unvermittelt sind, und dass das, was wahr ist, sich nicht als falsch erweisen kann (APo. I 2, 72a; II 19, 100b). Diese These beschreibt das Ideal einer perfekten wissenschaftliche Theorie. Gerade im Blick auf dieses Ideal können wir nach Aristoteles aber einsehen, dass wir als endliche menschliche Wesen stets in einer fragilen epistemischen Situation sind, die das Scheitern unserer Wissensansprüche niemals endgültig auszuschließen gestattet. [42]Unsere konkrete epistemische Situation in aktiver Forschung wird durch methodische Praktiken strukturiert, die dafür sorgen sollen, dass wir unsere Wissensansprüche möglichst gut begründen und eventuelle Fehler möglichst schnell entdecken können. Die Beschreibung der idealen Wissenschaft ist mit der fallibilistischen Diagnose unserer epistemischen Situation durchaus vereinbar.

      Eine der verblüffendsten Entwicklungen der Aristoteles-Rezeption seit dem Mittelalter ist die axiomatische Lesart seiner Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Dieser verbreiteten Lesart zufolge soll Aristoteles behauptet haben, dass wir uns der Wahrheit der obersten Prinzipien einer Wissenschaft durch das spezifische Vermögen der Einsicht unmittelbar und endgültig versichern und dann alle Theoreme aus den obersten Prinzipien deduktiv ableiten können – so dass sich auf diese Weise auch die Wahrheit aller Theoreme endgültig sichern lässt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Lesart falsch ist. Ihr Fehler besteht darin, nicht zwischen Wissensideal und konkreter epistemischer Situation bei Aristoteles zu unterscheiden und Bemerkungen über das Wissensideal als Aussagen über unsere konkrete epistemische Situation misszuverstehen. Bereits Aristoteles war im weitesten Sinne wissenschaftstheoretischer Fallibilist. Und auch die moderate fallibilistische Einstellung in der Wissenschaftstheorie zählte er zur Bildung – die Wissenschaftstheorie ist so wenig wie Topik oder Logik eine spezielle Wissenschaft. Wir können Aristoteles selbst kaum dafür verantwortlich machen, dass er viele Jahrhunderte lang – vermutlich unter dem Einfluss des christlichen Denkens – fälschlicherweise

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