Die Haut am Markt. Will Berthold
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»Sie muß man zu allem anschieben«, knurrt der Mann, »besser, man hätte Sie auch zum Gnadengesuch gezwungen.« Er steht auf, betrachtet den eingespannten Bogen in der Schreibmaschine. »Aus Ihnen werde ich nicht klug«, fährt er fort, »aber einen Dachschaden haben Sie in jedem Fall.« Der Aufseher tippt an seine Mütze. »Ich weiß schon, was Sie vorhaben.« Er wirft ohne Absicht meine Manuskripte durcheinander. »Das da.«
Er drückte seine »blaue Gauloise« aus, »Es soll einmal so ein Bursche eine Kirche angezündet haben, nur damit man auf ihn aufmerksam würde.«
»Ja«, antworte ich, »Herostratos, dreihundertsechsundfünfzig vor Christus. Es war übrigens keine Kirche, sondern ein Tempel.«
»Ihnen vergehen die Feinheiten auch noch«, versetzt der Wärter. Dann betrachtet er mich erschrocken. »Wenn Sie etwas wollen?« setzt er rasch hinzu.
Der Mann steht leicht vornübergebeugt, in der Pose eines Lauschers. Dabei ist es für ihn still. Er hat nicht das geschärfte Ohr des Delinquenten. Er hört nicht, wie sich in diesen Stunden in allen Ecken und Winkeln des Hauses die Spinnen in ihren Netzen rühren und krabbeln, krabbeln. Er hört nicht, wie die Balken knistern. Er kennt auch nicht die ächzende Diskretion des alten Gemäuers, diese geschwätzige Verschwiegenheit, die im Angesicht der Guillotine den Finger auf die Lippen preßt.
»Nerven haben Sie ja. Im Krieg dabeigewesen, was?«
»Ja«, entgegne ich, »vier Jahre.«
»Dreckskrieg!« brummt er, »aber für Sie vielleicht jetzt ganz gut.« Er mustert mich mit seinen lichtgrauen Augen. »Sind trainiert, wie?«
Ich nicke.
»Ihr Freund da drüben«, sagt er und spricht im Ton des Beamten, der als kleinen Gunstbeweis seine Pflicht verletzt, »ist nicht so in Form. Der Doktor war schon wieder bei ihm. Schreikrämpfe.«
Einen Moment fürchte ich, der Anfall könnte den Termin aufschieben.
Der Wärter deutet auf meine Schreibmaschine.
»Vielleicht doch besser«, sagt er, »da sind Sie wenigstens abgelenkt. Werden Sie fertig?« fragt er.
»Ja«, antworte ich.
»Ein Buch?« will der Mann weiter wissen.
»Ja.«
»Über Ihren Fall?«
»Ja.«
»Schade«, stellt er ehrlich fest, »das hätte ich gerne mit Widmung gehabt.« Er zuckt mit den Schultern und steht mit dem Tablett unter dem Arm in der Tür. »Der Pfarrer läßt fragen, ob er kommen soll«, sagt er noch. Seine Pupillen richten sich auf mich, starr und gezielt wie der Zwillingslauf einer Jagdflinte.
»Später«, erwidere ich.
Der Aufseher nickt. Er ist ein Fetischist der Ordnung, der staatlichen wie der himmlischen.
»Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten –«, sagt er beiläufig und schließt die Tür.
Ich bin wieder allein.
Mit mir.
Mit ihr.
Mit uns.
Mit Marcelle und mir, zu zweit und doch einsam.
Einsamkeit: das ist der stumpfsinnige Ausfluß eines defekten Wasserhahns, der dumme Tropfen, der den Stein höhlt. Einsamkeit schmeckt wie der Speichel im Mund, wie die eigenen Zähne. Einsamkeit ist wie ein gläserner Mantel, hinter dem man sich versteckt, ist vielleicht die letzte Romantik unserer Zeit, die einzige Intimsphäre, vor der die Technik versagt, es sei denn, man verschleuderte sie an den Bildschirm, an den dummen Tropfen also, der das Gehirn wäscht.
In der Todeszelle bevölkert sich diese Einsamkeit mit ungeladenen Gästen: mit Geräuschen und Gedanken, die auf abgegrasten Wegen dahinhasten, bis sie sich irgendwo im Sand die – Beine brechen und dann wie auf Prothesen weiterhumpeln, quer durch die Vergangenheit, wie blind durch dieses Labyrinth.
Wieder steht man an den Verkehrsknotenpunkten seines Lebens, stolpert in die gleichen Fallen, wird zu seinem eigenen Abziehbild. Nur erkennt man es plötzlich, sieht sich unförmig in einem Spiegel besonderer Art, aufgequollen, häßlich. Man stemmt sich dagegen – und wird doch wieder genauso arrogant, gierig, oberflächlich, laut, edel, töricht, so schlichtweg menschlich, wie man war.
So eine Todeszelle ist ein Treibhaus des Was Wäre, wenn …?
Sooft ich an den letzten Weg über den grauen Gang denke, spüre ich, daß Gedanken noch viel gemeiner sind als die Wirklichkeit. Die Phantasie steigert alles, hebt es in die dritte Dimension. Meine Gegenwehr: ich schreibe.
Vielleicht stößt sich der Leser daran, daß ich gelegentlich vom Thema abgleite – ich werde versuchen, dies ab jetzt zu vermeiden, so gut ich kann. Ich will auch larmoyantem Selbstmitleid nicht viel Platz geben. Sollte sich gelegentlich ein zynischer Unterton zwischen die Zeilen schmuggeln, so erinnere ich daran, daß ich dieses Manuskript in einer ganz besonderen Lage abschließe, in der angewandter Zynismus nichts anderes ist als geronnene Melancholie. Außerdem wird man verschroben, so man altert; in den Stunden vor dem Tod ist man immer ein Greis.
Auch schon im Alter von einundvierzig.
Hiermit bin ich bei meinen Personalien, die ich der Einfachheit halber gleich aus den Gerichtsakten zitiere:
Name: Kerbach, Vorname: Paul, Autorenname: Gerhard Nobis, Alter: 41, Staatsangehörigkeit: deutsch, Vorstrafen: fehlen.
Gezeugt, geboren, getauft, geimpft in München, Sohn des Beamten Martin Kerbach und seiner Frau Georgette, geborene Fabrizius, ordentliche Vermögensverhältnisse, keine Schulden, beide umgekommen beim Luftangriff vom 21. Dezember 1944.
Vier Jahre Volksschule, 1939 Abitur des humanistischen Gymnasiums, Einberufung zum Arbeitsdienst, Mitte 1940 Abstellung zur Wehrmacht, vorwiegend Infanterie, Fronteinsatz. Verwundet, ausgeheilt. Kriegsschule, Beförderung zum Leutnant. Einsatz im Osten, verwundet. Zusammen geflickt Wieder abgestellt. Rückzug von Kiew bis Berlin. Nach Kapitulation der Reichshauptstadt russische Gefangenschaft, zuletzt Offizierslager Workuta. Entlassen als Spätheimkehrer, im Regierungsdurchgangslager Friedland eingetroffen am 2. Mai 1948.
In der Heimat, in der Heimat, da gab’s ein Wiedersehn.
Wiedersehen mit dem Gymnasialdirektor Dr. Dr. Kleber: jetzt nicht mehr im Braunhemd, sondern im weißen; Mitarbeiter des Kultusministeriums, längst entnazifiziert und befördert; Unruhe im Blick, Pathos im Ton, elegisch bis unter die Stirnglatze.
»Ach Sie, Kerbach, na, alles gut überstanden? Freut mich für Sie. Wird schon werden. Nun hinein ins volle Leben!«
Früher sagte er: Hinaus an die Front; und er berauschte sich am süßen Tod für das Vaterland. Aber das kann er heute nur noch den Schülern der Unterstufe beibringen, nicht einem Kriegsabiturienten: wie mir, einem der vielen, deren freiwillige Meldung zum Barras er bewirkt hatte, und einem der wenigen, die trotzdem wieder gekommen waren.