Ewige Stille. Astrid Keim
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ewige Stille - Astrid Keim страница 4
Um keine Schmierspuren auf den Glasrändern zu hinterlassen, hat sie auf Lippenstift verzichtet, ebenso auf Parfüm. Darauf hatte Christoph immer bestanden, in dieser Hinsicht kannte er kein Pardon. Die Erinnerung an einen vehementen Krach am Anfang ihrer Beziehung wegen eines Hauchs Chanel ist noch lebendig. Dabei war es noch nicht einmal die intensive Nummer 5, sondern die leichte, blumige 19. Auf Weinproben, so argumentierte er, sei das ein Unding. Eine Belästigung der Teilnehmenden, eine gravierende Beeinträchtigung der Geruchswahrnehmung. Damals wusste sie noch nicht, dass ihr späterer Gatte nicht nur Weinkenner, sondern Weinenthusiast war, der mit beeindruckender Treffsicherheit Rebsorten und Anbaugebiete, sowie Jahrgänge und Winzer zuordnen konnte. Mit einer Runde Gleichgesinnter traf er sich regelmäßig zu Blindverkostungen, um dieser Leidenschaft zu frönen. Am Anfang eine fremde Welt, erschlossen sich ihr nach und nach viele Nuancen, die einen Wein unverwechselbar machen. Er lehrte sie, dass allein schon das Bukett eine Menge über Kellertechnik und Rebsorte verrät und brachte ihr bei, spontan vergorene Weine von jenen mit zugesetzter Hefe zu unterscheiden, herauszufinden, ob der Ausbau im Stahltank, Holzfass oder Barrique erfolgte. Zu Beginn war ihr Interesse eher oberflächlich. Entweder ein Wein schmeckte oder nicht, weiter war sie bis dahin nicht in die Materie vorgedrungen. Aber Christoph ließ nicht locker, machte sie immer wieder auf sortentypische oder gebietsspezifische Merkmale aufmerksam, bis sich ihr nach und nach ein ganzes Spektrum erschloss. Nie brachte sie es auch nur annähernd zu seiner Meisterschaft, aber immerhin gelang es ihr im Laufe der Jahre, hin und wieder Treffer zu landen. Ihr erster war die Identifikation einer Scheurebe. Wein aus diesen Trauben ist der Duft von schwarzen Johannisbeeren eigen, das hatte sie sich gemerkt. Sie war mächtig stolz auf ihren Erfolg, der die Motivation erhöhte, sich weiteres Wissen anzueignen.
So ist es für Laura seit Langem undenkbar, auf passende Weinbegleitung beim Essen zu verzichten, denn bei sorgfältiger Auswahl geht beides eine harmonische Verbindung ein, die den Genuss vervollkommnet. Wenn sie auch respektiert, dass nicht jeder Alkohol zu sich nehmen möchte, ist es ihr doch ein Graus, wenn am Nebentisch Apfelsaftschorle zur Dorade, Bier zur Fischterrine oder Cola zum Hirschrücken bestellt wird. Diese Affinität zum Wein erhöht allerdings die Ausgaben beträchtlich und schränkt die Auswahl eines Restaurants stark ein. Denn bei vielen steht nur ein sehr begrenztes Sortiment zur Verfügung, nämlich das, was »im Allgemeinen sehr gern genommen wird« – eine immer wiederkehrende Aussage des Servicepersonals, bei der sofort ihre Alarmglocken schrillen. Nun, heute Abend ist so etwas nicht zu befürchten, heute Abend werden edle Tropfen die einzelnen Gänge begleiten und die Köche ihr Bestes geben.
3
Jetzt werden sie bald kommen und alle ausquetschen, die etwas gesehen haben könnten, denkt der Mann am Bildschirm. Samuel Gordon, ein groß gewachsener, hagerer Mann, dem man das fortgeschrittene Alter zwar ansieht, jedoch nicht, dass er die achtzig bereits hinter sich gelassen hat, beobachtet das Treiben im Hof über eine Kamera, die er zur Überwachung seiner Eingangstür installieren ließ. Die Leiche ist abtransportiert, die Scheinwerfer gelöscht, Spurensicherung und Polizei sind abgezogen. Von den Zuschauern ist nur noch eine kleine Gruppe von Männern übrig geblieben, deren Lachen bis in den fünften Stock dringt. Er steht auf, lässt über eine Fernbedienung die Jalousien herunter und schaltet die Deckenbeleuchtung ein. Ein Dimmer hat die Helligkeit auf ein Minimum reduziert, gerade genug, um alles erkennen zu können, aber zu wenig, um auch die Ecken zu erleuchten.
Die Wohnung erstreckt sich auf zwei Stockwerken über die gesamte Fläche des Hauses, welches ihm gehört. Er ließ das Dach anheben, die ehemaligen Dienstbotenunterkünfte und den Speicher zu einer leicht rückversetzten Maisonette ausbauen, um sie selbst zu bewohnen. Von unten ist die Aufstockung nicht zu bemerken, was genau seinen Wünschen entspricht.
Seine Wohnung ist geschmackvoll und teuer eingerichtet. Solchen Luxus würde man nicht in diesem Haus erwarten, dessen Glanzzeiten schon lange vorbei sind. Bei seiner Fertigstellung war es gewiss ein Schmuckstück mit der reich verzierten Gründerzeitfassade, den hohen, von Giebeln gekrönten Fenstern. Der Zahn der Zeit hat jedoch deutliche Spuren hinterlassen. Schmutzablagerungen vieler Jahre lassen kaum noch Rückschlüsse auf die ursprüngliche Farbgebung zu, die schmiedeeisernen Gitter der Balkone sind an einigen Stellen verrostet, die steinernen Ornamente tragen deutliche Spuren von Verwitterung, sodass man die Kunstfertigkeit der Steinmetze nur noch erahnen kann. Die Stelle der reich geschnitzten, schweren Eichentür nimmt nun eine Metall-Glaskonstruktion aus den Siebzigern ein. In die Fassungen der Schilder über den Klingelknöpfen sind kleine Zettel mit den Namen der Bewohner geschoben, einige kaum leserlich, andere in Blockbuchstaben, die sich in verschiedene Richtungen neigen, eines in ungelenker Schreibschrift, zwei Computerausdrucke. Alles deutet darauf hin, dass das Haus von einfachen Leuten teilweise ausländischer Herkunft bewohnt wird. Keines weist auf den Mann ganz oben hin.
Im großzügigen Treppenhaus relativiert sich der etwas heruntergekommene Eindruck des Hauses. Es wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert, die Stufen sind mit Teppich belegt. Zudem wurde ein Aufzug eingebaut, gerade ausreichend für zwei Personen und kaum bemerkbar, da er in einem geschlossenen Schacht verläuft und sich lediglich im fünften Stock öffnet. Der Zugang erfolgt über eine gesicherte Tür zum Hinterhof. Für die übrigen Bewohner ist Gordon so fast ein Unbekannter. Wenn sich ihre Wege doch einmal kreuzen, wird er mit Respekt gegrüßt, aber mit Ausnahme seiner kleinen Freundin im Erdgeschoss finden keine Gespräche statt. Der Hausverwalter Jens Rosenzweig, der ein paar Häuser weiter wohnt, kümmert sich um alle Anliegen der Bewohner. Er ist ein enger Freund und entfernter Verwandter Gordons, ihre Verbundenheit rührt noch aus der Kindheit. Das Naziregime überlebte Rosenzweig in Frankfurt, während ein großer Teil der Familie in letzter Sekunde nach Amerika übersetzte. So auch Gordons Mutter mit dem kleinen Samuel, nachdem sein Vater verhaftet und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war. Sie heiratete später einen Börsenmakler, der den Jungen adoptierte, und kehrte nach dem Krieg mit der kleinen Familie nach Frankfurt zurück, da ihr Gatte einem lukrativen Angebot folgte.
Im Nachlass seiner Eltern befand sich auch das Haus, in dem Gordon nun lebt. Er erhöhte den Mietzins im Laufe der Jahre nur gering, Kündigungen werden nicht ausgesprochen, solange es keinen triftigen Grund dafür gibt. Dies geschieht allerdings nicht aus schierer Menschenfreundlichkeit, wie es die Mieter mutmaßen, sondern aus einfachem Kalkül. Je unauffälliger, desto besser. Nichts an die große Glocke hängen, niemandem Anlass zu Neid oder Misstrauen geben. Keineswegs liegt es in seiner Absicht, jemanden von der Polizei hereinzubitten, um Fragen zu beantworten. Sollten sie herausbekommen, dass hier jemand lebt, würde er selbstverständlich aufs Präsidium kommen, seine Aussage machen und ihnen mitteilen, dass ihm leider nichts Ungewöhnliches aufgefallen sei.
In seine Wohnung jedoch würde er sie nicht lassen. Denn Zutritt zu dieser erlangt nur ein ganz spezielles Klientel, welches eine gemeinsame Leidenschaft eint, das Sammeln alter Handschriften. Weniger ganze Bücher, da diese kaum noch zu bekommen sind, sondern hauptsächlich einzelne Seiten, manches Mal sogar nur Fragmente von Seiten, die doch den ganzen Zauber des Gewesenen im Sein vereinigen. Gordon ist einer der Großen dieser Branche, Sammler, Sachverständiger und Händler zugleich. Einige schöne Blätter schmücken unter entspiegeltem Glas die Wände. Es sind nicht die wertvollsten, aber sie geben einen Vorgeschmack auf das Sortiment. Damit dem Betrachter keine noch so kleine Nuance entgehen kann, liegen Lupen mit starker Vergrößerung bereit.
Die übrigen Stücke befinden sich in einem Safe. Gordon hat ihn exakt einpassen lassen, fast unsichtbar für das ungeübte Auge, denn das schmale Streifenmuster der Tapete verläuft in einer Linie mit der Fuge. Zusätzlichen Schutz vor unerwünschten Blicken bietet ein Wandteppich aus dem 17. Jahrhundert. Dargestellt ist eine Venus im Bade, ausgeführt in feinster Stickerei. Er erwarb ihn aufgrund der passenden Größe und dem moderaten Preis für ein solch typisches Werk seiner Epoche. Inzwischen jedoch denkt Gordon immer öfter darüber nach, es gegen ein anderes auszutauschen, denn jedes Mal wenn sein Blick darauf fällt, stört er sich an den Proportionen. Die Formen der nackten Schönheit sind üppig, die Brüste dagegen