Ewige Stille. Astrid Keim
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Das klingt ziemlich dringend. Augenblicklich beschließt Iris, das Protokoll auf später zu verschieben. Sie hat Herzklopfen und Pudding in den Knien. Offensichtlich ist ihre Freundin zu einer Aussprache bereit. Die schlimmsten Befürchtungen schießen ihr durch den Kopf. Jenny hat jemand Neues gefunden und will die Trennung. Jenny hat die Diagnose einer gefährlichen Krankheit erhalten. Jenny kommt mit ihrem Studium nicht zurecht und will abbrechen oder sich einen neuen Platz im Ausland suchen.
Sie findet ihre Gefährtin im Bett, zwar blass, aber mit einem Buch in der Hand. Iris atmet auf. So dramatisch kann die Situation also nicht sein, wenn sie sich für Lesestoff interessiert. Als sie allerdings den Titel sieht, kehren ihre Befürchtungen zurück: »Das tibetanische Totenbuch.« Sie setzt sich auf die Bettkante. »Was ist passiert?« Nur ein Blick von unten herauf, keine Antwort. Iris nimmt die Hände ihrer Freundin. »Bitte sag mir, was los ist, ich muss es wissen. Wenn es mit mir zusammenhängt …«
»Nein, nicht mit dir. Oder doch, irgendwie. Du wirst es mir sowieso nicht verzeihen.«
»Ich glaube kaum, dass es etwas gibt, das unverzeihbar wäre. Ich dachte, du vertraust mir.«
Wieder dieser Blick. »Ja, natürlich.«
»Also los, dann lass es raus.«
»Ich habe noch mal mit Gernot geschlafen. Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Du weißt ja, wie schlecht es ihm damals ging. Er konnte es einfach nicht verkraften, dass ich ihn verlassen habe und schon gar nicht wegen einer Frau. Er rief immer mal wieder an, fragte, wie es mir ginge, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich alles nur als Irrtum herausstellen würde. Vor ein paar Wochen ließ ich mich darauf ein, ihn zu besuchen, um noch einmal über alles zu sprechen. Das war einer der Abende, wo ich wusste, dass du lange arbeiten musst. Wir haben ein paar Gläser Wein getrunken und er war so wahnsinnig unglücklich, fing an zu weinen. Ich nahm ihn in den Arm, um ihn zu trösten. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es dazu kam, aber es passierte eben. Ich bin dann weg, sagte ihm vorher, dass ich die Sache bereue und er sich keine weiteren Hoffnungen mehr machen solle.«
Iris zögert einen Augenblick. »Na ja, begeistert bin ich nicht grade, Offenheit wäre mir lieber gewesen.«
»Zuerst wollte ich es dir ja auch sagen, habe mich aber nicht richtig getraut und es immer vor mir hergeschoben. Und dann ging es gar nicht mehr.«
Iris hebt die Augenbrauen.
»Ich wurde an diesem Abend schwanger.«
Jetzt allerdings verschlägt es ihr die Sprache. Schwanger. Von ihrem Ex. Das hat grade noch gefehlt! Sie versucht, sich das künftige Leben zu dritt vorzustellen, aber es will ihr nicht gelingen.
»Kamst du denn nicht auf die Idee, zu verhüten?«
»Nein, kam ich nicht. Weißt du, wir haben nie verhütet.«
Iris ist verblüfft. »Aber warum denn nicht?«
»Ich hatte dir ja gesagt, dass Gernot ein ganzes Stück älter ist als ich. Seine frühere Freundin wünschte sich ein Kind und er war damit einverstanden. Es klappte aber nicht. Also beschlossen sie, der Sache auf den Grund zu gehen und es stellte sich heraus, dass der größte Teil von Gernots Spermien nicht lebensfähig ist und eine Schwangerschaft an ein Wunder grenzen würde. Seine Freundin wurde tatsächlich in den sechs Jahren ihrer Beziehung nicht schwanger und ich glaube, dass dies auch der Trennungsgrund war. Als wir uns kennenlernten, verheimlichte er die Geschichte nicht und ehrlich gesagt war ich nicht unglücklich darüber. Ein Kind kam für mich zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht in Frage und ich war froh, nicht die Pille nehmen zu müssen.«
»Aber jetzt hat sich das geändert?«
Jenny schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin mit dir glücklich, so wie es ist und über den Nachwuchs musst du dir auch keine Gedanken mehr machen.«
»Du hast abgetrieben?«
»Ja, heute. Und die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Den Ausschlag gab der Befund, dass aufgrund einer Beckenfehlstellung die Schwangerschaft mit großen Risiken behaftet sei und damit die Indikation zum Abbruch vorläge.«
»Aber warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«
»Ich wollte dich nicht damit belasten und denke auch, dass es gut so war. Damit musste ich allein klar kommen.«
Beide schweigen eine Weile und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Dann zieht Iris ihre Freundin an sich. »Wie konntest du nur glauben, dass ich dir nicht verzeihen würde? So oder so, auch bei der Entscheidung, das Kind zu behalten, hätten wir eine Lösung gefunden. Wichtig ist doch, dass wir einander lieben und zusammen bleiben wollen. Alles andere ist sekundär. Eins möchte ich aber noch wissen: Wieso das tibetanische Totenbuch?«
»Um Abschied zu nehmen. Dort stehen Worte, die den Verstorbenen auf dem Weg ins Jenseits begleiten und vor Gefahren schützen. Es ist mir ein Trost, sie zu lesen.«
5
Es ist kurz vor fünf, etwas zu früh, als Laura im Restaurant eintrifft, dem ehemaligen Salon eines Herrenhauses, malerisch auf einer kleinen Anhöhe einige Kilometer nördlich von Frankfurt im Vordertaunus gelegen. Der letzte wichtige Umbau erfolgte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, das Haus jedoch ist wesentlich älter und geht auf eine mittelalterliche Klosteranlage zurück. Einem verheerenden Brand während des Dreißigjährigen Krieges fielen Kirche und Nebengebäude zum Opfer, das Haupthaus mit den Unterkünften, dem Dormitorium und Refektorium blieben jedoch erhalten, wurde säkularisiert und in den folgenden Jahrhunderten immer wieder verändert und zu unterschiedlichen Zwecken genutzt.
Laura hat sich für ein Taxi entschieden und erreicht über eine geschwungene Auffahrt den Haupteingang, wo der Wagen halten und anschließend direkt weiterfahren kann. Ursprünglich für Kutschen angelegt, um ihnen das Wenden zu ersparen, bietet sich nun Autofahrern eine bequeme Möglichkeit, Insassen, die nicht gut zu Fuß sind, aussteigen zu lassen und dann den nahegelegenen Parkplatz anzusteuern.
Wie jedes Mal, wenn sie hier eintrifft, bleibt sie zunächst im weitläufigen Vestibül stehen, um sich am Anblick der Kristalllüster, der Samtportieren und des Stucks zu erfreuen. Hier ist sie noch zu spüren, die Welt des Großbürgertums, dessen Einkommensverhältnisse solch einen Empfangsraum gestatteten. Mit Sicherheit wäre in früheren Zeiten sofort ein distinguierter Butler erschienen, der sich zunächst der Garderobe angenommen hätte, um dann vorauszuschreiten und die Ankömmlinge den Herrschaften anzukündigen. Nun, das ist Geschichte, heute kümmern sich Mitglieder des Servicepersonals um die Gäste. Wäre Laura später erschienen, hätte man sie sofort in Empfang genommen, aber jetzt wird noch niemand erwartet und so macht sie sich allein auf den Weg ins Restaurant. Nur wenige Schritte ist sie gegangen, als ihr bereits Johannes Lindner, der Sommelier, entgegenkommt. Ein Signalgong, der beim Überschreiten der Schwelle vor der regulären Öffnungszeit ertönt, hat ihm ihre Anwesenheit angezeigt. Die beiden kennen sich schon viele Jahre, ja, man kann sagen, sie sind zusammen alt geworden. Er arbeitet seit einer Ewigkeit in diesem Haus, ohne jemals den Drang verspürt zu haben, sich eine andere Stelle zu suchen. Auch die Stammgäste würden es als großen Verlust empfinden, nähme jemand anderes seine Position ein – genau wie Laura. Obwohl man sich nicht häufig sieht, ist ein freundschaftliches Verhältnis entstanden.
Jetzt kommt er mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Wie schön, dass du wieder der Einladung gefolgt bist. Jetzt haben wir etwas Zeit, ein paar Worte miteinander zu wechseln,