Ausgewählte Erzählungen. Oscar Wilde
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Erzählungen - Oscar Wilde страница 18
Um zwei Uhr stand er auf und schlenderte in der Richtung nach Blackfriars zu. Wie unwirklich alles aussah! Wie in einem seltsamen Traum! Die Häuser auf der anderen Seite des Flusses schienen aus der Finsternis emporzuwachsen. Es war, als hätten Silber und Schatten die Welt neu geformt. Die mächtige Kuppel von St. Paul ragte undeutlich aus der dunklen Luft auf wie eine Wasserblase.
Als er sich Cleopatra's Needle näherte, sah er einen Mann über die Brüstung gelehnt, und als er näher kam, blickte der Mann auf, und das Licht einer Gaslaterne fiel voll auf sein Gesicht.
Es war Mr. Podgers, der Chiromant! Das fette, schlaffe Gesicht, die goldene Brille, das matte Lächeln, der sinnliche Mund waren nicht zu verkennen.
Lord Arthur blieb stehen. Eine glänzende Idee zuckte ihm durch den Kopf, und leise trat er hinter Mr. Podgers. Im Nu hatte er ihn bei den Füßen gepackt und in die Themse geworfen. Ein rauher Fluch, ein hohes Aufspritzen – dann war alles still. Lord Arthur blickte ängstlich nach unten, aber er sah vom Chiromanten nichts mehr als einen hohen Hut, der sich in einem Wirbel des mondbeschienenen Wassers drehte. Nach einiger Zeit versank auch der Hut, und keine Spur von Mr. Podgers war mehr sichtbar. Einen Augenblick glaubte er zu sehen, wie die dicke, unförmige Gestalt aus dem Wasser nach der Treppe bei der Brücke griff, und eine furchtbare Angst, daß wieder alles mißlungen sei, überkam ihn, aber es stellte sich als eine bloße Einbildung heraus, die vorüberging, als der Mond hinter einer Wolke hervortrat. Endlich schien er die Bestimmung des Schicksals erfüllt zu haben! Ein tiefer Seufzer der Erleichterung hob seine Brust, und Sybils Namen kam auf seine Lippen.
»Haben Sie etwas fallen lassen, Sir?« sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Er wandte sich um und sah einen Polizisten mit einer Blendlaterne.
»Nichts von Bedeutung, Wachtmeister!« antwortete er lächelnd, rief einen vorüberfahrenden Wagen an, sprang hinein und befahl dem Kutscher, nach dem Belgrave Square zu fahren.
Während der nächsten Tage schwankte er zwischen Hoffnung und Furcht. Es gab Augenblicke, in denen er fast glaubte, Mr. Podgers müsse jetzt ins Zimmer treten, und dann fühlte er wieder, daß das Schicksal nicht so ungerecht gegen ihn sein könne. Zweimal ging er zur Wohnung des Chiromanten in der West Moon Street, aber er brachte es nicht über sich, die Glocke zu ziehen. Er sehnte sich nach Gewißheit und fürchtete sie gleichzeitig.
Endlich kam die Gewißheit. Er saß im Rauchzimmer seines Klubs, trank seinen Tee und hörte zerstreut zu, wie Surbiton vom letzten Couplet in der Gaiety erzählte, als der Diener mit den Abendblättern hereinkam. Er nahm die St. James Gazette zur Hand und blätterte verdrossen darin, als eine merkwürdige Überschrift seinen Blick fesselte:
Selbstmord eines Chiromanten.
Er wurde blaß vor Aufregung und begann zu lesen. Der Artikel lautete:
Gestern früh um sieben Uhr ist der Leichnam des Mr. Septimus R. Podgers, des berühmten Chiromanten, bei Greenwich, gerade gegenüber dem Shiphotel, ans Ufer gespült worden. Der Unglückliche wurde seit einigen Tagen vermißt, und in chiromantischen Kreisen war man seinetwegen in größter Besorgnis. Es ist anzunehmen, daß er infolge einer durch Überarbeitung verursachten geistigen Störung Selbstmord begangen hat, und in diesem Sinne hat sich auch heute nachmittag die Totenschaukommission ausgesprochen. Mr. Podgers hatte soeben eine große Abhandlung über die menschliche Hand vollendet, die demnächst erscheinen und gewiß großes Aufsehen erregen wird. Der Verstorbene war 65 Jahre alt, und es scheint, daß er keine Verwandten hinterlassen hat.
Lord Arthur stürzte aus dem Klub, die Zeitung noch immer in der Hand, zur großen Verwunderung des Portiers, der ihn vergeblich aufzuhalten suchte, und fuhr sofort nach Park Lane. Sybil sah ihn vom Fenster aus kommen, und eine innere Stimme sagte ihr, daß er gute Nachrichten bringe. Sie lief hinunter, ihm entgegen, und als sie sein Gesicht sah, wußte sie, daß alles gut stünde.
»Meine liebe Sybil«, rief Lord Arthur. »Wir heiraten morgen!«
»Du dummer Bub – die Hochzeitskuchen sind ja noch nicht einmal bestellt!« sagte Sybil und lachte unter Tränen.
VI
Als drei Wochen später die Hochzeit stattfand, war St. Peter gedrängt voll von einer wahren Horde eleganter Leute. Der Dechant von Chichester vollzog die heilige Handlung in eindrucksvollster Weise, und alle Welt war einig, daß man nie ein hübscheres Paar gesehen habe als Braut und Bräutigam. Aber sie waren mehr als hübsch, denn sie waren glücklich. Keinen Augenblick bedauerte Lord Arthur, was er um Sybils willen alles erlitten hatte, während sie ihrerseits ihm das Beste gab, was eine Frau einem Mann geben kann: Anbetung, Zärtlichkeit und Liebe. Für sie beide hatte die Realität des Lebens seine Romantik nicht getötet. Sie fühlten sich immer jung.
Einige Jahre später, als ihnen bereits zwei schöne Kinder geboren waren, kam Lady Windermere zu Besuch nach Alton Priory, einem entzückenden alten Schloß, das der Herzog seinem Sohne zur Hochzeit geschenkt hatte. Und als sie eines Nachmittags mit Lady Arthur unter einer Linde im Garten saß und zusah, wie das Bübchen und das kleine Mädchen gleich munteren Sonnenstrahlen auf dem Rosenweg spielten, nahm sie plötzlich die Hände der jungen Frau in die ihren und sagte:
»Sind Sie glücklich, Sybil?«
»Teuerste Lady Windermere, natürlich bin ich glücklich. Sind Sie es nicht?«
»Ich habe keine Zeit, glücklich zu sein, Sybil. Ich habe immer den letzten Menschen gern, den man mir vorstellt. Aber gewöhnlich habe ich gleich von den Leuten genug, wenn ich sie näher kennenlerne.«
»Ihre Löwen genügen Ihnen also nicht mehr, Lady Windermere?«
»O Gott, nein. Löwen sind höchstens gut für eine Saison. Sind einmal ihre Mähnen geschnitten, sind sie die dümmsten Wesen auf Erden. Überdies benehmen sie sich meist sehr schlecht, wenn man nett zu ihnen ist. Erinnern Sie sich noch an den gräßlichen Mr. Podgers? Er war ein schrecklicher Schwindler. Natürlich ließ ich mir nichts merken, und selbst wenn er Geld von mir borgte, verzieh ich ihm – nur, daß er mir den Hof machte, konnte ich nicht vertragen. Er hat es tatsächlich so weit gebracht, daß ich die Chiromantie hasse. Ich schwärme jetzt für Telepathie – das ist viel amüsanter.«
»Sie dürfen hier nichts gegen die Chiromantie sagen, Lady Windermere. Das ist der einzige Gegenstand, auf den Arthur nichts kommen läßt. Ich versichere Sie, daß es ihm damit vollkommen ernst ist.«
»Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß er wirklich daran glaubt, Sybil?«
»Fragen Sie ihn doch selbst, Lady Windermere – da ist er.« Lord Arthur kam den Garten herauf mit einem großen Strauß gelber Rosen in der Hand, und seine zwei Kinder umtanzten ihn.
»Lord Arthur!«
»Ja, Lady Windermere.«
»Wollen Sie mir wirklich einreden, daß Sie an Chiromantie glauben?«
»Ganz gewiß glaube ich daran!« antwortete der junge Mann lächelnd.
»Aber warum denn?«
»Weil ich der Chiromantie das ganze Glück meines Lebens verdanke«, murmelte er und setzte sich in einen Korbsessel.
»Was verdanken Sie ihr, lieber Lord Arthur?«