Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

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Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson

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zunichtemachen. Nun gibt es doch aber eine famose Aufhebungsklausel zur Abseitsregel, welche die Angreifer ständig und nur zu gerne zu vergessen scheinen. Bleiben sie nämlich hinter dem Balle, können sie nicht im Abseits stehen, gleichgültig, ob McCracken herausläuft oder sonst etwas tut.“

      Doch die Funktionäre waren besorgt. 1921 kam es zu einer weiteren Optimierung der Regel. Nun war es nicht mehr möglich, dass ein Spieler nach einem Einwurf abseits stand. Spätestens 1925 war dann offensichtlich, dass noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden mussten. Die FA schlug zwei mögliche Lösungen vor: Nach der ersten sollten sich nur noch zwei Spieler vor dem Angreifer befinden müssen; der zweiten zufolge wäre in jeder Spielhälfte eine zusätzliche Linie 36,5 Meter vor dem Tor eingezogen worden, hinter welcher der Angreifer nicht abseits stand. Sogleich machte sich die FA daran, beide Regeln in einer Reihe von Schaukämpfen zu testen. Man spielte eine Halbzeit lang mit der ersten und während der anderen mit der zweiten Variante.

      Im Juni 1925 entschied die FA dann auf einer Tagung in London, jener Variante den Vorzug zu geben, bei der zwei verteidigende Spieler zur Aufhebung des Abseits genügten. Der schottische Verband übernahm die Änderung bald darauf ebenfalls und brachte die Regeländerung auch als Vorschlag beim International Board ein. Zur Saison 1925/26 wurde die neue Regel dann eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte eine mit Abseitsfalle spielende Mannschaft einen Verteidiger zur Absicherung zurückbehalten können, wenn sein Nebenmann zum Abfangen eines Angreifers vorstieß. Unter der neuen Regel bestand nun das Risiko, dass eine Fehleinschätzung der Situation zu einer Eins-zu-eins-Situation zwischen Angreifer und Torhüter führte.

      Oberflächlich betrachtet, war die Regeländerung ein sofortiger Erfolg. Die durchschnittliche Zahl der Tore pro Spiel erhöhte sich auf 3,69. Die Änderung rief jedoch auch tiefgreifende Veränderungen in der Spielweise hervor und führte zur Entwicklung des „dritten Verteidigers“ bzw. W-M-Systems durch Herbert Chapman – eine Entwicklung, die nach weitverbreiteter Meinung zum Niedergang und zunehmend unansehnlichen Charakter des britischen Fußballs führte.

      Am nachdrücklichsten vertrat diese These Hugo Meisls jüngerer Bruder Willy in seinem Buch Soccer Revolution, das als Reaktion auf Englands 1953 erlittene 3:6-Niederlage gegen Ungarn entstand. Meisl war bereits ein glühender Verehrer Englands gewesen, bevor er vor dem wachsenden Antisemitismus in Österreich floh und sich in London niederließ. In seinem Buch trauert er dementsprechend der alten Zeit nach, die er aber tatsächlich nur aus Erzählungen kannte und wahrscheinlich idealisierte. Meisl war zwar eine geachtete Persönlichkeit im Sportjournalismus – er berichtete hauptsächlich für ausländische Medien über den englischen Fußball –, doch zumindest für den heutigen Leser stellt Soccer Revolution eine äußerst exzentrische, wenn auch gut geschriebene Arbeit dar. Aus Meisls Sicht entsprach die Änderung der Abseitsregel dem Sündenfall des Fußballs, mit ihr sei seine Unschuld verloren gegangen, und der Kommerz habe den Sieg davongetragen. Vielleicht ist da sogar etwas dran. Allerdings war sie höchstens der Beginn einer Entwicklung, die inzwischen gewaltige Ausmaße annimmt.

      Willy Meisl war nicht weniger romantisch als sein Bruder. Seiner Auffassung nach hatten die bornierten Vereinsbosse, deren einziges Interesse den Bilanzen galt, für die Schwächen des Fußballs einfach die Regeln verantwortlich gemacht. Daran, dass sie sich womöglich einer „falschen Denkweise bezüglich des Spiels schuldig machten“, hätten sie dagegen niemals einen Gedanken verschwendet. Also hätten sie eine Politik durchgesetzt, die „für den Laien wie eine kleine Verbesserung der Spielregeln ausgesehen haben mochte“, die sich jedoch „als der Knall eines Schusses erwies, der eine Lawine in Gang setzte“.

      An dieser Stelle zeigt sich ein weiteres Mal die Kluft zwischen erfolgreichem und schönem Fußball. Heutzutage spielt diese Debatte nur noch eine nebensächliche Rolle. In den 1920er Jahren allerdings war sie lebendig genug, um die Idee einer Liga als solche – eines „Alptraums“, wie Brian Glanville tönte – in Frage zu stellen. „Die durchschnittliche Qualität eines Spiels würde sich deutlich erhöhen, wenn das Ergebnis nicht das einzig wichtige Ziel eines Spieles wäre“, räumte auch Chapman ein. „Die Angst vor der Niederlage und dem Punktverlust zerstören das Selbstvertrauen der Spieler. … Unter entsprechend guten Rahmenbedingungen wären die Profis wesentlich leistungsfähiger, als man annehmen möchte. Es scheint also, dass wir die Bedeutung von Siegen und Punkten minimieren müssen, wenn wir besseren Fußball sehen wollen.“ Und der ehemalige Spurs-Kapitän Danny Blanchflower meinte, dass es „ein großer Trugschluss [sei], dass es sich beim Fußball in erster Linie ums Gewinnen dreht; es geht um Ruhm, darum, die Dinge mit Stil zu tun.“

      Aber selbst wenn man dem zustimmt, wollte man die Entscheidung doch trotzdem nicht einer Jury überlassen, die wie beim Eiskunstlauf Noten von eins bis zehn vergibt. Es ist nun mal eine traurige Wahrheit, dass diejenigen, die gewinnen wollen, sich auch unattraktiver Methoden bedienen. Selbst die Argentinier begannen nach den glorreichen Zeiten von La Nuestra damit, und die Österreicher hätten es trotz ihres ästhetischen Bewusstseins wohl ebenso getan, wäre ihnen der Faschismus nicht zuvorgekommen. Goldene Zeitalter sind nun mal nicht für die Ewigkeit bestimmt.

      Infolge der geänderten Abseitsregel fand das Spiel wieder auf größerem Raum statt, da die Angreifer nun mehr Bewegungsfreiheit hatten. Das Kurzpassspiel wurde durch längere Bälle abgelöst. Manche Mannschaften kamen damit besser zurecht als andere, und zu Beginn der Saison 1925/26 stachen einem die unberechenbaren Ergebnisse besonders ins Auge. Insbesondere Arsenal tat sich durch mangelnde Konstanz hervor. Nachdem sie am 26. September Leeds United mit 4:1 abgefertigt hatten, wurden sie am 3. Oktober von Newcastle United mit 7:0 abgeschossen.

      Charlie Buchan, Arsenals rechter Innenstürmer und wahrscheinlich der größte Star der Mannschaft, war voll des Zorns und verkündete Trainer Chapman, dass er zurück in den Nordosten gehen wolle. Dort hatte er beim AFC Sunderland zuvor diverse Erfolge gefeiert. Dieses Arsenal aber, so sagte Buchan, sei eine Mannschaft ohne Konzept, eine Mannschaft ohne Aussichten auf irgendeinen Titel. Chapman muss daraufhin um sein Lebenswerk gebangt haben, und Buchans Worte dürften ihm einen besonders heftigen Stich versetzt haben – war Chapman doch durch und durch ein Planer.

      Herbert Chapman stammte aus der kleinen, zwischen Sheffield und Worksop liegenden Bergbaustadt Kiveton Park. Hätte es den Fußball nicht gegeben, wäre er wohl dem Beispiel seines Vaters gefolgt und Bergarbeiter geworden. Zunächst spielte Chapman für die Stalybridge Rovers, dann für den damaligen AFC Rochdale, für Grimsby Town, Swindon Town, Sheppey United, Worksop Town, Northampton Town, Notts County und schließlich für Tottenham Hotspur. Als Spieler war er ein Wandervogel: gut genug zwar, um nicht in den Berg einfahren zu müssen, aber auch kaum mehr. Wenn er überhaupt in seiner Laufbahn als Spieler auffiel, dann durch seine blassgelben Schuhe aus Kalbsleder. Chapman trug sie in der Überzeugung, dass seine Mannschaftskameraden ihn auf diese Weise leichter erkennen würden – ein frühes Indiz für den Erfindungsgeist, der ihm als Trainer so gute Dienste leisten sollte.

      Indessen begann Chapmans Trainerkarriere ohne großes Aufsehen. Nach einem Freundschaftsspiel für Tottenhams Reservemannschaft im Frühjahr 1907 lag er gerade in der Badewanne, als sein Mitspieler Walter Bull ein Angebot als Spielertrainer erwähnte, das er von Northampton Town bekommen hatte. Allerdings wollte er lieber seine aktive Karriere als Spieler fortsetzen. Chapman bekundete sein Interesse, Bull empfahl ihn weiter, und Northampton verpflichtete ihn – nachdem man sich dort zuvor vergeblich um den ehemals bei Stoke City und Manchester City aktiven Mittelläufer Sam Ashworth bemüht hatte.

      Chapman wollte als Anhänger des schottischen Kurzpassspiels mit seiner Mannschaft jene „Raffinesse und Listigkeit“ zeigen, die er mit dieser Art von Fußball verband. Nach einer Reihe von vielversprechenden Erfolgen zu Beginn der Saison ließ Northampton jedoch nach. Eine Heimniederlage gegen Norwich City im November bedeutete schließlich den Absturz auf den fünftletzten Platz in der Southern League. Chapman erlebte seine erste Krise, und seine Antwort darauf war zugleich seine erste großartige Idee. Er erkannte, dass „eine Mannschaft auch zu lange angreifen kann“, und ermunterte deshalb seine Truppe, sich zurückfallen zu lassen.

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