Die Erde. Emile Zola
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„He, meine Kleinen“, meinte sie schließlich. „Ich borge mir eine Laterne bei euch, ich laufe zu unseren Weinbergen.“
Sie zündete eine der beiden Laternen an und verschwand mit Nénesse.
Der Bécu, die kein Land besaß, war das im Grunde egal. Sie stieß Seufzer aus, flehte den Himmel an, weil winselnde Weichlichkeit ihr zur Gewohnheit geworden war. Die Neugierde jedoch brachte sie unaufhörlich wieder zur Tür zurück; und eine lebhafte Anteilnahme pflanzte sie dort kerzengerade hin, als sie bemerkte, daß sich das Dorf mit leuchtenden Punkten bestirnte. Durch einen Ausblick zwischen dem Stall und einem Schuppen schweifte vom Hof aus der Blick über ganz Rognes. Zweifellos hatte der Hagelschlag die Bauern geweckt, jeder war von der gleichen Ungeduld erfaßt, auf seinen Feldern nachsehen zu gehen, und bangte zu sehr, als daß er den Tag hätte abwarten können. Deshalb kamen die Laternen eine nach der anderen hervor, wurden immer mehr, liefen und tanzten. Und der Bécu, die die Lage der einzelnen Häuser kannte, gelang es, jeder Laterne einen Namen beizulegen.
„Sieh mal einer an! Bei der Großen wird Licht gemacht, und da gehen sie nun auch bei Fouans raus, und da drüben, das ist Macqueron, und daneben, das ist Lengaigne ... Lieber Gott! Die armen Leute, das zerreißt einem das Herz ... Ach, ich kann mir nicht helfen, ich muß auch gehen!“
Lise und Françoise blieben allein bei der Leiche ihres Vaters. Der Regen rann weiter, kleine nasse Windstöße fegten dicht über den Erdboden, brachten die Kerzen zum Tropfen. Man hätte die Tür schließen müssen, aber keine von beiden dachte daran, weil auch sie trotz der Trauer des Hauses von dem Drama draußen ergriffen und erschüttert waren. Das genügte also nicht, den Tod bei sich zu Hause zu haben? Der liebe Gott zerschlug alles, man wußte nicht einmal, ob einem ein Stück Brot zum Essen blieb.
„Armer Vater“, murmelte Françoise, „er hätte sich Kummer gemacht! – Ist besser, daß er das nicht sieht.“ Und da ihre Schwester die zweite Laterne nahm, fragte sie: „Wo gehst du hin?“
„Mir fallen die Erbsen und die Bohnen ein ... Ich komme gleich zurück.“ Unter dem Platzregen überquerte Lise den Hof und ging in den Gemüsegarten.
Nur Françoise blieb bei dem Alten. Noch hielt sie sich auf der Schwelle, war sehr aufgeregt durch das Hin und Her der Laterne. Sie glaubte Gejammer, Weinen zu hören. Ihr brach das Herz.
„He? Was?“ rief sie. „Was ist denn?“
Keine Stimme antwortete. Wie von Sinnen ging die Laterne rascher hin und her.
„Sag, hat’s die Bohnen weggeschoren? – Und die Erbsen, steht es schlecht um sie? – Mein Gott! Und das Obst, und der Salat?“ Aber ein Schmerzensruf, der deutlich zu ihr herüberklang, brachte sie zu einem Entschluß. Sie raffte ihre Röcke hoch, rannte in den Platzregen hinaus, ihrer Schwester nach. Und verlassen lag der Tote in der leeren Küche, ganz steif unter seinem Laken zwischen den beiden blakenden und traurigen Dochten. Das linke Auge, das hartnäckig offenblieb, betrachtete die alten Deckenbalken.
Ach, welch eine Verwüstung suchte dieses Fleckchen Erde heim! Welch ein Wehklagen über das im flackernden Schein der Laternen nur flüchtig geschaute Unheil stieg auf! Lise und Françoise trugen ihre Laterne umher, die so vom Regen beschlagen war, daß die Scheiben kaum Licht warfen; und sie hielten sie näher an die Beete heran, sie unterschieden im engen Lichtkreis undeutlich die weggeschorenen Bohnen und Erbsen, die Salatköpfe, die so zerschnitten und zerhackt waren, daß man nicht daran denken konnte, auch nur etwas davon zu verwenden. Aber vor allem die Bäume hatten gelitten: die dünnen Zweige und die Früchte waren wie mit Messern abgeschnitten; die zerschundenen Stämme selber verloren ihren Saft aus den Löchern in der Rinde. Und weiter weg in den Weinbergen war es noch schlimmer; es wimmelte von Laternen, sie hüpften, tobten unter Stöhnen und Fluchen. Die Weinstöcke schienen niedergemäht; der Boden war besät mit den in Blüte stehenden Reben, mit den Überresten der Stützhölzer und der Ranken; nicht allein die Ernte dieses Jahres war verloren, sondern die Weinstöcke, die ihrer Blätter beraubt waren, würden dahinsiechen und sterben. Niemand spürte den Regen, ein Hund heulte Tod und Verderben, Frauen brachen in Tränen aus wie an einem offenen Grabe. Macqueron und Lengaigne leuchteten sich trotz ihrer Rivalität gegenseitig, gingen von einem zum anderen hinüber und fluchten, je mehr Trümmer sie sahen, diese kurze und bleifahle Vision, die hinter ihnen wieder vom Dunkel verschluckt wurde. Obwohl der alte Fouan kein Land mehr besaß, wollte er nachsehen und wurde böse. Nach und nach brausten alle auf. War denn das die Möglichkeit, in einer Viertelstunde den Ertrag von einem Jahr Arbeit zu verlieren? Was hatten sie getan, um dermaßen gestraft zu werden? Weder Sicherheit noch Gerechtigkeit, grundlose Gottesgeißeln, Launen, die die Leute umbrachten. Voller Wut las die Große plötzlich Steine auf, schleuderte sie in die Luft, um den Himmel aufzureißen, den man nicht erkennen konnte. Und sie brüllte:
„Verdammtes Schwein da oben! Du kannst uns also nicht in Frieden lassen?“
Auf der Matratze in der Küche lag verlassen Fliege und betrachtete mit seinem starren Auge die Decke; da hielten zwei Wagen vor der Tür. Jean brachte schließlich Herrn Finet, nachdem er fast drei Stunden bei ihm zu Hause auf ihn gewartet hatte; und er kam im Wägelchen zurück, während der Doktor seinen Einspänner genommen hatte.
Der Arzt, der groß und hager war und ein von erstorbenem Ehrgeiz vergilbtes Gesicht hatte, trat schroff ein. Im Grunde verwünschte er diese Bauernkundschaft, die er für seine Mittelmäßigkeit verantwortlich machte.
„Was, kein Mensch da? – Es geht also besser?“ Als er die Leiche erblickte, fügte er hinzu: „Nein, zu spät! – Ich habe es Euch ja gesagt, ich wollte nicht kommen. Das ist immer dieselbe Geschichte, sie rufen mich erst, wenn sie tot sind.“
Diese nutzlose Behelligung mitten in der Nacht ärgerte ihn; und da Lise und Françoise gerade hereinkamen, geriet er vollends außer sich, als er erfuhr, daß sie zwei Stunden gewartet hatten, bevor sie nach ihm schickten.
„Ihr, ihr habt ihn umgebracht, weiß Gott! – So was Blödes! Kölnischwasser und Lindenblütentee bei einem Schlaganfall! – Außerdem niemand bei ihm! Klar, der wäre euch nicht davongelaufen ...“
„Aber, Herr Doktor“, stammelte Lise unter Tränen, „das war doch wegen des Hagels.“
Herr Finet, dessen Teilnahme erwachte, beruhigte sich. Aha! Es hatte gehagelt? Durch das lange Leben mit den Bauern hatte er schließlich deren Leidenschaften bekommen. Auch Jean war näher getreten; und beide wunderten sich, brachten laut ihr Erstaunen zum Ausdruck, denn sie hatten nicht ein Hagelkorn abbekommen, als sie von Cloyes kamen. Die einen verschont, die anderen um alles gebracht, und das in ein paar Kilometer Entfernung: wahrhaftig, was für ein Pech, wenn man auf der schlechten Seite war! Als dann Fanny die Laterne zurückbrachte und die Bécu und die Frimat ihr folgten – alle drei waren verweint und konnten nicht genug erzählen an Einzelheiten über das Grauenvolle, das sie gesehen hatten –, erklärte der Doktor ernst:
„Das ist ein Unglück, ein großes Unglück ... Es gibt kein größeres Unglück für die Felder ...“
Ein dumpfes Geräusch, eine Art Brodeln unterbrach ihn. Das kam von dem Toten, der vergessen zwischen den beiden Kerzen lag. Alle verstummten, die Frauen bekreuzigten sich.