Klara. Dirk Bernemann
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Die Tage dehnten sich zu Traueransprachen, zu Heimaufenthalten, zu Ozeanüberquerungen.
Und genau das ich schrieb ich Klara dann auch. In einer Kurznachricht. Nachdem ich mich fünf Nächte lang mit zuckendem Schwanz, klopfendem Herzen und einem Denkapparat, der einem Reaktor kurz vor der Kernschmelze glich, von einer Seite auf die andere geworfen hatte: »Die Tage dehnen sich zu Traueransprachen, zu Heimaufenthalten, zu Ozeanüberquerungen. Komm her.«
Lehrbuchartig ließ sie mich eine weitere Nacht warten, ließ meine Nervenenden bei jedem Lebenszeichen meines Handys in Lava baden, dann tauchte ihr Name endlich auf dem Display auf.
»Heute Abend. Um neun bei dir. Du besorgst Wein und Jägermeister.«
Da sie nicht geschrieben hatte, was für Wein, besorgte ich roten und weißen. Dazu die größte Flasche Jägermeister (0,7 Liter), die der Supermarkt zu bieten hatte.
Wie bei unserem letzten Treffen war sie auf die Minute pünktlich. Sie trug eine grüne Lederjacke; einen Rock, der so kurz war, dass er sie in Riad oder Doha umgehend ins Gefängnis gebracht hätte; dazu Schuhe mit Keilabsätzen. Als sie mich zur Begrüßung auf die Wange küsste, musste sie sich kaum recken. Was ihren Slip anging, tippte ich auf so ein dünnes Fähnchen, wie sie es beim ersten Mal getragen hatte. Und ich sollte Recht behalten. Der String, den sie mir alsbald präsentierte, hätte knapper nicht sein können.
Wir tranken und rauchten, und vögelten zwischendurch. Damit meine Lust nicht erlahmte, achtete ich peinlich darauf, nicht zu kommen. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war, erbat ich eine Pause. Gespräche gab es diesmal kaum, jedenfalls keine, die ernste Themen zum Inhalt gehabt hätten. Dafür wurde beim Sex viel geredet. Je häufiger wir es miteinander trieben, desto stärker beschlich mich der Eindruck, dass Klara sich am Klang meiner Stimme berauschte. Je mehr ich redete, desto schneller ging ihr Atem, je schneller ihr Atem ging, desto mehr wollte sie mich reden hören. Aber es war nicht nur die Stimme allein, es waren vor allem die Geschichten aus meiner Vergangenheit, die Klara merkbar geil werden ließen. Sicher auch, weil das, was ich von mir gab, ihrer Eitelkeit schmeichelte.
Angefangen hatte sie damit.
»Erzähl mir von der hässlichsten Frau, die du je gefickt hast«, hatte sie unvermittelt gefordert.
Ich ließ mich nicht lange bitten und warf den erstbesten Namen ins Rennen, den ich mit der Liste Sexualkontakte, für die deine Freunde dich ausgelacht hätten (oder haben) in Verbindung brachte. Natürlich übertrieb ich ein bisschen, als ich das Äußere der Frau beschrieb, ließ sie altern und aufquellen und dreihundert Mitesser mehr bekommen. Und ich übertrieb auch, als ich Klaras zweite Frage beantwortete, die sich der ersten zwangsläufig anschloss: »Und was hast du mit ihr gemacht? Erzähl mir alles, ganz genau.«
Ich trug deshalb etwas dicker auf, weil ich schnell merkte, dass Klaras Erregtheit besonders von den Stellen befeuert wurde, die nicht unbedingt unter die Kategorie sanfte Erotik fielen. Je weniger nett ich mich in meinen Erzählungen gab, desto größer wurde Klaras Bereitschaft, sich weniger nett behandeln zu lassen.
Im Laufe der Nacht griff ich immer stärker auf meine Fantasie zurück. Zum einen war es so deutlich leichter, Klaras Erwartungen zu bedienen, zum anderen gaben meine Erinnerungen irgendwann schlicht nichts mehr her.
Aber auch meine Fantasie, besser: meine Lust, dieselbe zu bemühen, ließ schließlich nach. Klara wollte das jedoch nicht gelten lassen.
»Komm, bitte. Bitte eine noch«, bettelte sie, wie ein Kind, das nach jeder Gutenachtgeschichte eine weitere hören möchte. Ihre Augen groß wie die eines Streichelzoobewohners.
Dieses naiv Unschuldige stand natürlich im krassen Gegensatz zu dem, was wir taten, war damit aber gleichzeitig auch wieder Antriebskraft unserer Triebhaftigkeit.
Ich gab ihrem Drängen nach, bis das Zusammenspiel von Hirn und Zunge wirklich gar nichts mehr hergeben wollte, bis ich mich fühlte wie ein Barpianist auf Heroin, der immer wieder dieselben drei Töne anschlägt. Aber mein Einsatz hatte sich gelohnt. Klara war glücklich.
»Für mich beim nächsten Mal bitte nur Rotwein«, sagte sie, obwohl sie, nachdem wir den Roten geleert hatten, nicht hatte erkennen lassen, dass sie den Weißen nicht mochte. Dann lächelte sie, seufzte genüsslich und schloss die Augen.
Schon am nächsten Abend war es mit der guten Stimmung allerdings wieder vorbei. Auslöser war die Bedienung des Ladens, in dem wir uns getroffen hatten, eine burschikose, etwas herbe Mittvierzigerin, irgendwo zwischen ganz schön schlau und Guns N’ Roses.
Dass etwas nicht stimmte, merkte ich allerdings erst, als wir im Taxi saßen. Die Zeitspanne davor, wir mochten etwa zweieinhalb bis drei Stunden in der schlechtbeleuchteten Kellerbar verbracht haben, hätte ich ohne zu zögern als harmonisch bezeichnet. Weder hatten wir uns von dem viel zu lauten Elektropunk stören lassen, noch von der hohen Dichte an Menschen, die so wirkten, als wären Tinder, Grindr und Co. einzig erfunden worden, um die Welt an ihrem guten Aussehen und ihrem exquisiten Geschmack teilhaben zu lassen.
Wir hatten pausenlos aneinander herumgefummelt und uns abgefüllt, Klara mit Jägermeister, Mexikaner und Wein, ich mit Tequila Sunrise und Bier. Nun wollten wir zu mir, um das Programm der letzten Nacht zu wiederholen. Klara hatte kurz nach dem Einsteigen noch daran erinnert, dass wir Zigaretten brauchten, also vielleicht eine Tankstelle ansteuern sollten. Umso überraschter war ich, als sie plötzlich sagte: »Du hast sie angebaggert, du Scheißtyp.«
Ich drehte mich um und erwartete ein Lächeln auf ihrem Gesicht, dachte, sie würde scherzen. Aber da war kein Lächeln. Da waren nur Wut und Schmerz. Die Miene versteinert, der Blick ein glühendes Brandeisen.
»Wen angebaggert? Und was heißt das überhaupt angebaggert?«, empörte ich mich. »Das Wort ist schon völlig bescheuert.«
Da ich, von Klara abgesehen, den ganzen Abend über mit nur einer Frau gesprochen hatte, war nicht schwer zu erahnen, um wen es ging: die tätowierte Tresenkraft aus der Ü40-Liga. Zu der war ich, weil gutgelaunt, ausnehmend charmant gewesen. Und auch das Trinkgeld war nicht gerade knapp ausgefallen. Es existierte in meiner Erinnerung aber nichts, was auch nur ansatzweise unter die Rubrik Flirtversuch gefallen wäre. Warum auch, wo ich doch in der Begleitung einer Königin unterwegs war? Ich war deshalb sehr gespannt, was Klara mir konkret vorwerfen würde, und – da es eben nichts gab, was zum Vorwurf getaugt hätte – auch meinerseits bereits wütend.
Aber Klara wurde nicht konkret. Klara schwieg. Und als das Taxi vor dem nächsten Rotlicht stoppte, riss sie die Tür auf und lief davon. Ich wollte ihr hinterher, musste aber ja erst noch bezahlen.
»Meine ist auch so«, ließ sich der Fahrer ungefragt vernehmen. »Vierundzwanzig Jahre verheiratet, aber wenn ich ’ne andere nur mal von der Seite anschaue, gibt’s gleich Kassandra.«
»Kasalla«, korrigierte ich ihn, während ich mein Portemonnaie aus der Hosentasche friemelte und gleichzeitig aufs Taxameter schielte: 17,20 Euro. Ich drückte meinem neuen Freund und Leidensgefährten einen Zwanziger in die Hand: »Stimmt so.«
Der fühlte sich dadurch nur noch mehr animiert, mich an seinem Eheleben teilhaben zu lassen.
»Vierundzwanzig Jahre. Und verliebt wie am ersten Tag«, brüllte er, bevor ich die Tür von außen zuschlagen konnte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ich Klara gefunden hatte. Sie saß rauchend auf der Eingangstreppe irgendeiner Bildungseinrichtung und starrte auf ihr Smartphone.
Als