Du bist es vielleicht. Felix Scharlau

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Du bist es vielleicht - Felix Scharlau

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ins Tal. Die Feuerwehrleute, die sich oben postiert hatten, stellten ihre Bierflaschen ab. Manche drückten Passanten etwas in die Hand. Wahrscheinlich angebissene Steakbrötchen.

      Walter Tripke beugte sich zu Timo, der im Buggy schlief. Sein Enkel sollte miterleben, was jetzt geschah. Timo zuckte. Doch er wurde nicht wach. Ein Wunder, denn neben ihnen schrie das Mädchen nun wieder grell.

      »Jesses, es kommt! Da! Leute, hört doch!«

      Tatsächlich quietschten dort oben Bremsen hinter der Fachwerkhausreihe aus dem 18. Jahrhundert. Eine Hydraulik ächzte. Dann pfiff sie in immer kürzer werdenden Intervallen wie ein hyperventilierender Western-Zug. Gleich sah man den LKW. Und auf ihm den Anlass dieses sommerlichen Volksauflaufs. Ein achtzehn Meter langes, umgebautes Frachtschiff, das bald in Millimeterarbeit den Berg herunterkäme, als sei Noahs Sintflut überraschend ausgeblieben. Heute Abend würde es fest vertäut im Gustlowsee hinter ihnen liegen.

      Walter Tripke hatte lange um das Hausboot gerungen. Mit dem zwielichtigen Verkäufer. Mit Koschwitz, dem wankelmütigen Idioten von Bürgermeister. Und mit sich selbst.

      In Tripkes Arche würde es keine zwei geben von jeder Sorte. Die Suche nach neuen Ufern war für den Frührentner vorbei.

      Endlich schlug Timo die Augen auf. Sofort begann er, am Schnuller zu nuckeln und sich das Ohrläppchen zu kneten. In dem Moment, als er den Kopf hob und blinzelnd zur Anhöhe hinauf sah, schob sich das Führerhaus eines Lastzugs um die Hausecke. Dann gab Schreibwaren Kaiser den Blick auf einen panzerartigen, von Algen überwucherten Bug frei. Einen Moment verharrte das Schiff regungslos über Kreuzthal, als wolle es sich einen ersten Überblick verschaffen. Timo gluckste vor Begeisterung. Das pausbäckige Mädchen schrie den Berg an.

      »JESSES!«

      Endlich reagierte auch Walter Tripke. Er hob seine Super-8-Kamera. Argwöhnisch beäugt von all den Kreuzthalern, die den ganzen Morgen noch kein Wort an ihn gerichtet hatten. Mit der Nasenspitze betätigte Tripke den roten Aufnahmeknopf.

      Die Kamera fing an zu surren.

      Tag 267 seit dem Unfall. Der erste, an dem Walter Tripke nicht daran denken musste, dass ihm eine hydraulische Presse den linken Arm abgetrennt hatte. In dem geringen Maß, in dem er das Gefühl noch empfinden konnte, war er heute glücklich. Doch schon morgen würde der 17. Juli 1977 nicht mehr sein als ein Tag, der in der Vergangenheit lag.

      

      Wie eine Eule stand Timo Tripke vor dem Regal seines Arbeitszimmers. Mit seitlich abgeknicktem Kopf ging er die handgeschriebenen Titel der Kassettenhüllen durch, die dort zu Dutzenden nebeneinander standen. »Erschließen literarischer Texte 2«, »Alltag in der DDR: Leben im ›real existierenden Sozialismus‹«, »Diktate Klasse 6« las er in seiner eigenen krakeligen Handschrift, die sich kaum geändert hatte in den letzten Jahren. Wie überhaupt sehr wenig sich geändert hatte am Rande des Wohngebiets von Holden.

      Zwei Räume weiter erklang die Titelmusik einer bekannten Fernseh-Krimireihe. Er musste sich beeilen. Nicht für den sonntäglichen Krimi. Den sah Bernadette schon seit Jahren lieber alleine. Seit sie sich wegen der Leistung eines Hauptdarstellers so heftig gestritten hatten, dass sie fortan ohne ihn schaute und lieber im Netz mit Gleichgesinnten über das Gesehene chattete. Online, wenn Tripke das schon hörte. Vermutlich würde er bald in einen Käfig kommen als letzter Mensch ohne Profil in einem sozialen Netzwerk. Doch solange Sterbende noch an ihre Kinder oder Haustiere dachten anstatt den cleversten Kommentar zu einem Fernsehfilm, wollte Timo Tripke lieber offline bleiben.

      Sein Netz befand sich in der echten Welt. Auch wenn es sehr klein war.

      Doch in dieser, der echten Welt, war er wieder viel zu spät dran mit der Arbeit. Sonntag, Viertel nach acht, das hieß, Timo Tripke hatte das Wochenende wieder zu lange in den Armen gewiegt. Bis ungefähr halb elf würde er jetzt noch brauchen, um das Unterrichtsmaterial für die kommende Woche zusammenzustellen.

      Er hatte sich den Ablauf angewöhnt und rückte keinen Millimeter mehr davon ab.

      Sonntag Abend die Unterrichtsvorbereitung. Und unter der Woche erst die Korrektur von Klassenarbeiten. So blieb ihm erspart, unmittelbar an seine Freizeit angrenzend vom schlimmsten Teil des Arbeitsalltags geplagt zu werden. Von dem, was Schülergehirne zu Papier brachten.

      So sehr Jugendlichkeit einen gesellschaftlichen Fetisch darstellte, das analytische Denken von Jugendlichen konnte nur vermissen, wer lange nicht mehr damit konfrontiert worden war. Schülergehirne waren wie Baustellen, die man zur eigenen Sicherheit besser nicht betrat. Mit jedem neuen Schultag verblasste der positive Eindruck, den er zunächst von den meisten Schülern bekam, ein bisschen mehr. Am Ende jedes Schuljahres saßen vor Timo Tripke nur noch rosige Idioten, die alles taten, sich das Gegenteil einzureden.

      Und diese Idioten konnten grausam sein, so grausam. Auch wenn sie es nicht merkten und vielleicht nicht einmal etwas dafür konnten. Wie motiviert er damals sein Referendariat begonnen hatte. Ein Team auf Augenhöhe bilden. Denkmuster einreißen. Hierarchien sowieso. Das hatte er gewollt. Seine Schüler wertschätzen. Sich um sie bemühen, sie spüren. Herausfinden, wie sie dachten. Was sie bewegte und interessierte. Vielleicht wollten sie dann auch wissen, was ihm gefiel. Gemeinsame Interessen konnten Brücken schlagen, alles zwischen ihnen erleichtern.

      Doch es war anders gekommen. Als die wenigen »coolen« Lehrer am Riesenhuber galten längst andere. Tripkes Sprüche, seine vereinzelten Lernspiele, die Ausflüge, sie waren nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Vielleicht weil die Schüler wirklich so blöd waren und nicht verstanden, was sie an ihm hatten. Vielleicht aber auch, weil er einfach nicht cool war. Er wollte die Wahrheit lieber nicht kennen. Sie waren sie und er war er. Und daran würde sich nichts ändern.

      Keinen seiner Schüler hatte er jemals deswegen aufgegeben. Aber sich als Lehrer sehr wohl. Das konnte ihm niemand verbieten.

      Endlich fand er »Von der Dolchstoßlegende zur Krise der Weimarer Republik« im Regal. Die Kassette war falsch einsortiert worden, deshalb hatte er sie minutenlang übersehen. Timo Tripke kroch unter den Tisch, schaltete den Stromverteiler an und sah dabei zu, wie der alte Rechner ratternd hochfuhr. Aus dem Hintergrund drangen hölzerne Dialogfetzen ins Arbeitszimmer, als probe irgendwo im Haus eine Laienschauspielgruppe. Der Computer verarbeitete Systemupdates. Zumindest bei ihm gab es etwas Neues.

      Timo Tripke starrte durch das Fenster jenseits des Monitors und hinein in das schwarze Loch, das die ungenutzte Rasenfläche hinter dem Haus Nacht für Nacht bildete. Gut möglich, dass er heute wieder ins Bett gehen würde, ohne Bernadette vorher noch einmal über den Weg zu laufen.

      Zufall konnte das nicht mehr sein.

      

      Das Gefühl, das die Menschen überkam, wenn sie den Riesenhuber vor sich aufragen sahen, war traditionsgemäß Unbehagen. Nicht angsterfülltes Unbehagen. Nicht die Art, die sich des Körpers bemächtigte, sobald die transsylvanische Passstraße den Blick auf das Schloss von Vlad dem Pfähler freigab.

      Das Riesenhuber-Unbehagen speiste sich aus Verwunderung und ganz viel Mitleid. In diesem Betonklotz mit der Architektur eines Kernreaktors wurden Schüler unterrichtet? Ausgerechnet hier bereiteten sich die künftigen Säulen eines im Morast versinkenden Rentensystems auf ihren Einsatz vor?

      Der

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