Du bist es vielleicht. Felix Scharlau

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Du bist es vielleicht - Felix Scharlau

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am Computer tat, blieb rätselhaft. Sherlock schien immer hier zu sein. Doch weder Schüler noch Lehrer noch Putzhilfen noch Köche wussten, was in ihr vorging.

      Heike Stiefmutters Geist war eine emotionslose, sauber getaktete Maschine. Hinter ihrer menschenfeindlichen Art hatte sich ein kleines Genie verbarrikadiert. Keines, dem man sich im Alltag nähern konnte. Smalltalk, Etikette, Grußformeln prallten am Schalter der Baker Street ab.

      Dass Sherlock am Riesenhuber, nur am Riesenhuber, arbeitete, unterstrich, wie konsequent sie den üblichen sozialen Umgangsformen Stöcke in die Speichen warf. Jemand wie sie machte keine Karriere. Zumindest nicht offline.

      Als Timo Tripke am Riesenhuber angefangen hatte, musste jedoch etwas unplanmäßig verlaufen sein in Sherlocks Regelwerk, das vorgab, wie jeder an ihr zu zerschellen hatte. Tripkes Verhältnis zu ihr war von Anfang an besser gewesen als das aller anderen. Ihn hatte sie gegrüßt, wenn auch nicht immer. Mit ihm redete sie, wenn auch nur manchmal.

      Als ihm seine exklusive Verbindung zu Sherlock bewusst geworden war, hatte er sich geschmeichelt gefühlt. So wie jeder, der glaubte, Menschen für sich einnehmen zu können.

      Die Wahrheit über ihr Verhältnis war jedoch eine andere. Irgendwann hatte es Timo Tripke gedämmert, dass sie vermutlich schon lange vor ihm begriffen hatte, wie ähnlich sie sich waren.

      Der kleine Timo war einmal ein hübsches Kind gewesen. Noch immer hatte er professionelle Fotografien aus der Zeit, die das bestätigten. Doch irgendwann hatte er begonnen, sich zu verformen. Er musste ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein, als er es das erste Mal bemerkte. Während Timo nachts schlief, schien jemand sein Gesicht neu zu modellieren. Seine Physiognomie verzerrte sich. Jeder morgendliche Blick in den Spiegel zeigte, dass sich im Vergleich zum Vorabend eine Kleinigkeit zum Schlechteren verändert hatte.

      Als Kind hatte Timos Gesicht rundlich und völlig normal ausgehen. Als junger Erwachsener glich sein Kopf von vorne gesehen einer Acht. Sein Schädel war über die Jahre länger und länger geworden, die Backen dabei breit geblieben. An den Schläfen dellte sich sein Kopf nun nach innen, was den Blick seiner hellblauen Augen stechender werden ließ, als er ohnehin schon war. Die Stirn war lang wie eine Litfaßsäule. Das ohnehin dünne Haar zog sich weiter zurück. Schon mit 21 wirkte er wie ein junggebliebener 35-Jähriger, dessen Gesicht aus dem Lot geraten war. Der süße, telegene Junge von einst war Geschichte geworden. Fast Legende.

      Pubertät. Niemals ging sie so ganz. Und wenn doch, dachte Tripke, dann war man nicht richtig dabei gewesen.

      Er ahnte, Sherlock erlebte es für sich wohl ähnlich. Kniff man die Augen zusammen, hatte sie ein reizendes Gesicht. Niedliche, etwas zu große Ohren, eine unzeitgemäße Pony-Kurzhaarfrisur und einen rosigen Teint. Doch darauf konnten die wenigsten achten. Akne-Narben zogen sich, von den Nasenflügeln angefangen, über die Wangen bis zum Hals. Die Hautkrankheit hatte dem hübschen Mädchen die einsame Frau weisgesagt. Ihr Blick verriet, dass ihr Selbstbewusstsein unter der Erfahrung unwiederbringlich gelitten hatte.

      Sherlock und Tripke waren Versehrte, die die Pubertät überlebt hatten. Deren Körper die Vergangenheit aber so plastisch nacherzählten wie mittelalterliche Wandteppiche.

      Stiefmutters Spitzname Sherlock war vor diesem Hintergrund weniger ehrfurchtsvoll gemeint, als es erscheinen mochte. Er unterstrich die offensichtliche Entsexualisierung, statt das Genialische an ihr zu feiern.

      Sherlock und Tripke waren zwei von derselben Sorte. Sie ahnten es instinktiv. Mögliche Allianzen schienen jedoch sinnlos. Das aber würde sich bald ändern.

      

      Tripke starrte in die toten Augen der 10a. Hätte er heute Klassenarbeiten verteilt, wäre bei den 23 Schülern schnell wieder Puls zu fühlen gewesen. So würde es eine Weile dauern, bis alle, inklusive ihm, in der ersten Stunde dieser neuen Arbeitswoche angekommen waren.

      Wie immer stand er etwas zu lang untätig hinter seinem Pult. Blickte in die vom Wochenende gezeichneten Gesichter und sagte nichts. Was manchem Schüler wie ein akuter Depressionsschub zu Beginn jeder Stunde erscheinen mochte, war in Wahrheit einer von Tripkes ganz wenigen Tricks. Vielleicht sogar sein bester. Wie alle Lehrer fürchtete auch er, zu viel Angreifbarkeit auszustrahlen. Inszenierungen, die die Schüler über seine wahre – kaum vorhandene – Stärke im Unklaren ließen, waren überlebenswichtig.

      Er hatte es hier mit jungen Leuten zu tun. Und junge Leute waren zu allem fähig. Die NS-Zeit und Michel aus Lönneberga hatten es bewiesen. Die Lehrer-Schüler-Hierarchie schien nur stabil. Einmal nicht aufgepasst und Tripke hatte selbst streikende Schüler unter dem Auto liegen oder griff zur Flasche.

      Während er also zu Beginn jeder Stunde schwieg, versuchte Timo Tripke zu lesen, wer auf seinen Bluff hereinfiel. Es war wichtig zu wissen, wo er stand. Erst die Instrumente checken, vorher konnte niemand ernsthaft wagen abzuheben.

      An Montagen hatte es Trikpes Strategie besonders schwer. Da waren viele Schüler zu ausgeruht, andere noch auf Drogen. Er wartete deshalb heute zur Sicherheit noch ein paar Sekunden länger, ehe er sprach.

      Endlich, sein Mund öffnete sich und formte die magischen Worte. Die erste Lüge des Tages.

      »Guten Morgen.«

      »Morgen, Herr Tripke«, kam es asynchron aus wenigen, viel zu wenigen Richtungen.

      »Heute fangen wir mit einem neuen Thema an. Weimarer Republik, 1918 bis 1933. Weiß wer, warum die so heißt? Niemand? Okay, reden wir gleich drüber. Hören wir erst mal rein, würde ich sagen. Die ersten Jahre der Weimarer Republik.«

      Timo Tripke steckte das Netzkabel des tragbaren Kassettenrekorders in die Steckdose am Lehrertisch. Die Klasse musterte ihn dabei mit derselben Abschätzigkeit und Restverwunderung wie immer, wenn er das tat. Heimlich genoss er die Blicke, während er in der Aktentasche nach der richtigen Kassette kramte.

      »Von der Dolchstoßlegende zur Krise der Weimarer Republik« war ein frühes Werk von ihm. Es musste eines der Bänder sein, das er schon während seines Studiums vor 15 Jahren als Lernhilfe besprochen hatte. Seine Stimme darauf klang beim Vortrag noch unsicher und leise. Doch sie erfüllte bereits hier ihren Zweck.

      Er wusste nicht genau, warum er mit seinem Ansatz, weite Teile des Unterrichts nicht mehr selbst vorzutragen, sondern von Bändern abzuspielen, immer noch durchkam. Ein bisschen skandalös hatte er sein Verhalten selbst lange Zeit gefunden. Doch mittlerweile glaubte er fest an seine Technik.

      Natürlich wurde man mit einem Kassettenrekorder nicht zum beliebtesten Lehrer der Generation Zweithandy. Tripkes Kassetten waren das Allerletzte. Die meisten Schüler wussten nicht mal, wie man sie einlegte. Neulich hatte ein Schüler gefragt, wie viel Terrabyte Daten darauf Platz fänden.

      Aber die Bänder, auf denen er 20-minütige Einführungen las, die er nach dem Abspielen mit den Kindern diskutierte, wurden offenbar besser gemerkt als das, was von dozierenden Lehrern hängenblieb, die jedes Mal selbst daherplapperten.

      Seine Technik besaß auch für ihn selbst nur Vorteile. Während das Band lief, blieb ihm Zeit zum Nachdenken. Urlaub im Kopf, wie sein Opa immer gesagt hatte. Außerdem sparte er für jede Kassette, die er neu aufnahm, in den Folgejahren aufwändige Unterrichtsvorbereitungszeit. Ziel war, die letzten 15 Jahre bis zur Pensionierung überhaupt nichts mehr leisten zu müssen.

      Und das Allerbeste an seinen Kassetten: Er musste weniger zur Klasse reden.

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