Du bist es vielleicht. Felix Scharlau

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Du bist es vielleicht - Felix Scharlau

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sah er auch jetzt wieder durch ein Fenster in Raum 404 auf die Häuser hinab und genoss, wie sich seine eigene Stimme von Band immer weiter von ihm wegbewegte.

      Er war wieder an Deck seines Hausboots. So wie gestern.

      Die Augen geschlossen saß er in im Liegestuhl und versuchte, im Geräusch des Wassers, das gegen den Bug schwappte, ein Muster zu erkennen. Doch da war kein Rhythmus. Nur seliges Chaos.

      Die Seebinsen raschelten im Wind.

      Hinter ihm klackte etwas leise. Vielleicht arbeitete das Holz. Es klang schön. Über ihm schrie ein Vogel. Und wieder. Und wieder. Und …

      »Herr Tripke.«

      Die Stimme im Klassenraum war wieder zu hören. Aber es war nicht mehr seine eigene von Band.

      »HERR TRIPKE, DIE KASSETTE!«

      »Was?«

      »Aus.«

      »Scheiße.«

      Er zog mit zwei spitzen Fingern behutsam die Kassette aus dem Gerät. Da hatte er den Bandsalat. Das Tape war gerissen, vielleicht zu Hause noch zu kleben. Doch für heute definitiv aus dem Spiel. Jetzt galt es, einen kühlen Kopf bewahren.

      Die Stunde, auf die er sich, Kassette sei Dank, kein Stück vorbereitet hatte, war vielleicht zehn Minuten alt. Sie durfte ihm nicht entgleiten.

      Natürlich konnte er zur Weimarer Republik auch etwas frei vortragen. Und Schulbücher gab es auch noch. In geringer Stückzahl lagen sie sogar schon auf den Pulten.

      Doch noch wusste er nicht, wie er wieder in die Spur finden sollte. So perplex war er.

      Er ging zur Tafel und griff zum roten Marker. Noch immer hatte er keine Ahnung, was er vorhatte. Aber zumindest tat er etwas, das Lehrer immer taten. Sehr gut.

      »Dann machen wir das eben ohne Kassette«, hörte Tripke sich mit zittriger Stimme sagen. »Überhaupt kein Problem!«

      Schnell kam ihm der Verdacht, sein letzter Satz könne so geklungen haben, als sei in Wahrheit das Gegenteil der Fall.

      Er sah, wie er vier Ziffern an die Tafel schrieb. 1-9-1-8. 1918. Genial. Damit konnte er arbeiten.

      »Mit dem Kriegsende – hier, 1918 – war das … das Deutsche Reich in seiner bisherigen Form sozusagen, also, na, am Ende. Die Kaiserzeit war vorbei. Die Kolonialzeit war vorbei. Schwere Reparationszahlungen, also Forderungen der Siegermächte, standen an. Innenpolitisch herrschte mit der Abdankung des Kaisers ein eklatantes Machtvakuum. Also wollten viele Kräfte diese Stunde Null, so nennt man das auch, für sich nutzen und an die Macht. Vielleicht gucken wir mal an der Tafel, wer hatte denn alles ein Interesse, in dieser neuen Republik eine wichtige Rolle zu spielen?«

      Er legte den roten Marker weg und griff zum blauen.

      Sehr gut, unterschiedliche Farben verwenden! So etwas machten Lehrer mit einem Plan immer!

      »Ich mach mal einen Kreis und in dem tragen wir die unterschiedlichen Gruppen zusammen.«

      Tripke stellte sich seitlich, den Kopf zum Fenster gewandt, dicht an die Tafel. Den Stift im herunterhängenden Arm atmete er einmal kurz durch und schwang die Hand ohne hinzusehen in einer schnellen Bewegung im Kreis, bis sie unten wieder angekommen war.

      »Also«, wandte sich Tripke zur Klasse, »dann mal los. Wer fällt euch denn so ein?«

      Sie starrten ihn an.

      Die Müden, die Streber, die Dummen, die Skater, die HipHopper, die Reiterinnen, die Handballerinnen, die Nazis, die Muslime, der Zeuge Jehovas, die auf Drogen. Sogar diejenigen, die eben noch Emojis unter dem Tisch durchgeklickt hatten auf der Suche nach dem passenden Montagmorgengesicht.

      Alle blickten ungläubig an Timo Tripke vorbei zur Tafel.

      Levi Eismann in Reihe 3 war der Erste, der etwas sagte. Sieben Wörter. In etwa das, was er bisher im kompletten Halbjahr zustande gebracht hatte.

      »Alter, das ist ja mal der Hammer.«

      Hinter Tripke musste etwas Unerwartetes passiert sein. Panisch drehte er sich um. Erwartete einen Affen mit Messer zwischen den Zähnen oder eine Tarantel an der Tafel.

      Dann staunte er selbst.

      Timo Tripke, nicht gerade berühmt dafür, Dinge außergewöhnlich gut zu können, hatte freihändig einen perfekten Kreis an die Tafel gemalt. Keinen Kreis, der nur symmetrisch aussah. Den perfekten Kreis. Seine Rundung schien völlig gleichmäßig. Die Strichstärke überall gleich ausgeprägt. Und unten war das Ende des Strichs so perfekt auf den Anfang getroffen, dass man nicht mehr erkennen konnte, wo sein Urheber die Kreisfigur begonnen hatte.

      Dass Menschenhand diese Form erzeugt haben könnte, schien unvorstellbar. Das hier war das Werk einer Maschine. Eines hochauflösenden Laserdruckers vielleicht. Wären die Maya auf Bildungsreise in Heiligenstedt, sie würden sich hier und jetzt vor Timo Tripke auf das Linoleum werfen.

      »Noch mal! Noch mal!«

      Wenn Levi, der Mädchenschwarm und Nachwuchs-Punkrocker, so weitermachte, würde er noch zu einem richtigen Plappermaul in diesem Schuljahr.

      »Ja, noch mal! Das schaffen Sie nicht!«, kam es jetzt aus allen Richtungen. Sogar der Nazi hatte von nihilistisch-aggressiv zu kindlich-begeistert zurückschalten können. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.

      »Los, Herr Tripke!«

      Tripke stellte sich wortlos an die noch leere linke Tafelhälfte, sah erneut zum Fenster, ließ die Hand mit dem Stift wieder locker hängen und vollführte eine zweite schnelle Handbewegung gegen den Uhrzeigersinn.

      Fertig.

      Einem kurzen Moment ungläubiger Stille folgte tosender Applaus, wie ihn die Schüler sonst nur misogynen Berliner Rappern zuteil werden ließen. Tripke hatte schon wieder einen perfekten Kreis gemalt.

      »Wie ich immer sage – Hauptsache stabiler Kreislauf«, rief er, als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte.

      Der Gag saß. Die Schüler lachten. Einige klatschten wieder freudig. Der Rest der Stunde verschwand in wohligem Nichts.

      Auf der Heimfahrt nach Holden drehte Timo Tripke die Depeche-Mode-CD auf und sang laut mit. Einen besseren Montag am Riesenhuber hatte es nie gegeben. Er hatte für Gesprächsstoff gesorgt, positiv wohlgemerkt, und das gefiel ihm.

      Zu Hause angekommen hefteten sich seine Gedanken sofort an das Hefeweizenbier im Kühlschrank. Dabei war erst halb fünf. Nein, definitiv noch zu früh.

      Stattdessen ging er ins Wohnzimmer. Genauer: zur Biedermeier-Kommode von Bernadettes Großmutter. Die Schublade ruckelte laut, als er sie öffnete und die leicht vergilbte Schachtel französischer Zigaretten entnahm.

      Bald stand Timo Tripke, der lebende Zirkel, die Lehrkraft mit dem goldenen Handgelenk, das Gesprächsthema Nummer eins am Riesenhuber, auf dem ungenutzten Rasenstück hinter seinem Haus und rauchte zufrieden.

      Nein, dachte er, heute war definitiv kein Tag wie jeder andere.

      Wäre

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