Tropenkoller. Georges Simenon
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»Gerade eben wurde Thomas tot aufgefunden, zweihundert Meter von hier. Er ist mit einem Revolverschuss niedergestreckt worden.«
Oben klopfte ein Stock auf den Boden. Es war Eugène, der ungeduldig wurde, schließlich aufstand, die Tür seines Zimmers aufriss und ins Treppenhaus rief:
»Adèle! Herrgott, willst du mich hier einfach krepieren lassen?«
2
Als Timar erwachte, hatte er sich in dem heruntergerissenen Moskitonetz verheddert. Das Zimmer war sonnendurchflutet. Aber hier schien die Sonne alle Tage, es war kein freudiger Sonnenschein.
Auf seinem Bett sitzend, lauschte er den Geräuschen im Haus. Vier- oder fünfmal hatte er nachts in seinem unruhigen Schlaf ein Kommen und Gehen gehört, Flüstern und Wasser, das plätschernd in einen Steinkrug gegossen wurde.
Als der Arzt gekommen war, hatte die Wirtin Timar in sein Zimmer hinaufgeschickt und alle anderen aus dem Lokal gejagt.
»Wenn Sie mich brauchen …«, hatte er mit lächerlicher Inbrunst gestammelt.
»Ja. Gut. Aber jetzt legen Sie sich schlafen.«
War der Mann gestorben, wie er es angekündigt hatte? Jedenfalls wurde das Lokal ausgefegt. Als Timar seine Tür einen Spaltbreit öffnete, hörte er Adèles Stimme sagen:
»Gibt es keinen Käse mehr? In der Faktorei auch nicht? Dann mach eine Büchse grüne Bohnen auf. Warte! Zum Nachtisch gibt es Bananen und Aprikosen, von denen in der Reihe rechts. Hast du verstanden, du Hohlkopf?«
Sie hob die Stimme nicht. Sie hatte keine schlechte Laune. So sprach sie einfach mit den Schwarzen.
Als Timar einige Minuten später unrasiert hinunterkam, fand er sie an der Kasse, wo sie Bons ordnete, und das Lokal war schon sauber und aufgeräumt. Adèle sah proper und frisch aus. Ihr schwarzes Kleid war nicht zerknittert und ihre Frisur tadellos.
»Wie spät ist es?«, murmelte er verlegen.
»Kurz nach neun.«
Und um vier Uhr morgens war das mit dem Wirt passiert! Als er den Anfall bekommen hatte, war das Lokal dreckig und unaufgeräumt gewesen. Adèle war nicht schlafen gegangen, und nun hatte sie schon das Mittagessen bestimmt und sich Gedanken über Obst und Käse gemacht.
Und doch war sie blasser als sonst. Vor allem die dunklen Ringe unter den Augen veränderten ihr Aussehen. Gleichzeitig ahnte er, dass ihre Brüste unter dem Kleid auch jetzt wieder nackt waren, und er errötete.
»Geht es Ihrem Mann besser?«
Sie sah ihn erstaunt an, schien sich plötzlich zu erinnern, dass er erst seit vier Tagen in der Kolonie war.
»Er wird den Tag nicht überleben.«
»Wo ist er?«
Sie deutete zur Decke. Er wagte nicht zu fragen, ob der Sterbende allein war, aber sie erriet seinen Gedanken.
»Er redet schon wirres Zeug. Er merkt nichts mehr. Übrigens, hier ist ein Brief für Sie.«
Sie reichte ihm einen Umschlag über die Theke: ein kleines amtliches Schreiben, in dem Timar aufgefordert wurde, sich schnellstens auf dem Polizeikommissariat zu melden.
Eine Schwarze kam mit einem Korb Eier herein. Die Wirtin schüttelte den Kopf.
»Es wäre besser, Sie gingen hin, bevor es zu heiß wird.«
»Was, glauben Sie, wollen die …«
»Sie werden es ja sehen!«
Sie war nicht nervös. Auch das Lokal wirkte genauso wie an den anderen Vormittagen.
»Hinter der Mole, kurz vor dem Schiffsbüro, biegen Sie rechts ein … Vergessen Sie den Tropenhelm nicht!«
Er bildete es sich vielleicht nur ein, doch er hätte schwören mögen, dass sich die Schwarzen an diesem Morgen anders verhielten als sonst. Sicher, auf dem Markt ging es so laut und lebhaft zu wie immer, und die bunten Schurze schillerten in der Sonne. Aber plötzlich sah jemand in der Menge den Weißen mit einem düsteren Blick an, oder drei, vier Einheimische verstummten und wandten die Köpfe ab.
Joseph Timar beschleunigte den Schritt, obwohl ihm der Schweiß herunterrann. Er verlief sich und landete vor der Villa des Gouverneurs, musste umkehren und sah schließlich am Ende eines schlechten Weges eine Baracke, an der ein Schild hing:
Polizeikommissariat
Die Schrift war mit weißer Farbe ungeschickt aufgemalt, die beiden »s« von Kommissariat standen verkehrt herum. Schwarze in Polizeiuniform saßen mit nackten Füßen auf den Stufen der Veranda. Irgendwo in dem dämmrigen Haus klapperte eine Schreibmaschine.
»Ich möchte zum Kommissar.«
»Dein Papier …«
Timar zog seine Vorladung heraus, wartete, auf der Veranda stehend, und wurde dann in ein Büro gerufen. Die Jalousien waren heruntergelassen.
»Setzen Sie sich. Sie sind Joseph Timar?«
Im Halbdunkel konnte er einen Mann mit rotem Gesicht, hervorquellenden Augen und starken Tränensäcken ausmachen.
»Wann sind Sie in Libreville angekommen? Setzen Sie sich.«
»Mit dem Schiff am Mittwoch.«
»Sie sind nicht zufällig mit dem Departementsrat Timar verwandt?«
»Das ist mein Onkel.«
Mit einem Ruck erhob sich der Kommissar, schob seinen Stuhl zurück, streckte ihm eine schlaffe Hand hin und wiederholte in einem ganz anderen Ton:
»Setzen Sie sich doch. Wohnt er immer noch in Cognac? Ich bin fünf Jahre lang Inspektor in dieser Stadt gewesen.«
Timar war erleichtert. Denn zunächst hatte er in diesem dunklen, kümmerlich ausgestatteten Zimmer eine Anwandlung von Zorn oder Entmutigung empfunden. Es gab insgesamt fünfhundert Weiße in Libreville. Leute, die ein hartes, manchmal gefährliches Leben auf sich nahmen, nur damit man in Frankreich begeistert von der Erschließung der Kolonien sprechen konnte.
Und kaum war er gelandet, wurde er von einem Polizeikommissar vorgeladen und rüde wie ein unerwünschtes Element behandelt!
»Ein bedeutender Mann, Ihr Onkel! Er könnte jeden Tag Senator werden. Aber was wollen Sie denn hier?«
Nun war es am Kommissar, verwundert zu sein, so ehrlich verwundert, dass es Timar wiederum beunruhigte.
»Ich habe einen Vertrag mit der Sacova unterschrieben.«
»Geht denn der Direktor fort?«
»Nein, nein. Ich soll den Posten am Fluss übernehmen, aber …«
Jetzt war es kein Erstaunen mehr, es war betrübte Verblüffung.