Die Frauen nannten ihn Charly. Will Berthold
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Frauen nannten ihn Charly - Will Berthold страница 4
Die Nebengeräusche verstummten allmählich. Die letzten Genießer legten das Eßbesteck beiseite, verschoben den Nachtisch auf später.
»Leider kann er nicht unter uns sein – und warum das der Fall ist, wird er Ihnen nun selbst erklären.« Dr. Kündig nickte den Musikern zu.
Sie zogen die Schutzhaube von einem unförmigen Gerät, verbanden es mit ein paar Handgriffen mit dem Verstärker, an den die Lautsprecher angeschlossen waren. Tonbandmaschinen waren im Nachkriegsdeutschland noch neu und mußten von den Amerikanern ausgeliehen werden.
»Okay, Herr Doktor«, rief der Schlagzeuger, und der Rechtsanwalt trat an das Gerät heran und ließ das Band von der Spule. Sie drehte sich; zuerst war nichts zu hören, dann kamen Geräusche und schließlich Charlys Stimme, klar, deutlich, ein wenig akzentuierter, als er sonst zu sprechen pflegte. Vermutlich hatte er für die Aufnahme lange geprobt.
»Also, ihr Lieben«, begann er. »Ich kann euch gar nicht schildern, wie gerne ich jetzt unter euch wäre – aber das ist leider unmöglich, und ihr werdet auch gleich erfahren, warum wir nie mehr beisammen sein werden.« Die Spule drehte sich ein paarmal tonlos, und bevor Charlys Stimme wieder da war, starrten alle seinen Sachwalter an. Er war der einzige, der den Inhalt des Tonbands kannte; er konnte Gelassenheit demonstrieren, aber der Wackelkontakt seines linken Auges war jetzt deutlicher zu sehen.
»Der guten Ordnung halber möchte ich euch sagen, daß heute der 7. März 1948 ist. Ich komme gerade vom Skilaufen. Ich bin von der Piste abgekommen und an einem Felsüberhang siebzig Meter tief abgestürzt. Ich bin in einer tiefen Schneemulde gelandet, bin nur leicht verletzt, also glimpflich davongekommen, doch der Schock ist noch da, und ich frage mich, was sein könnte, wäre ich nicht zufällig in einer Schneeverwehung aufgekommen. Das verschafft mir einen nachdenklichen Tag, und so bin ich entschlossen, Dinge zu ordnen, die man sonst vor sich herzuschieben pflegt.«
Einige von Charlys Freunden wußten von dem Skiunfall und hatten auch bemerkt, daß er noch eine Zeitlang an ihm laborierte, bis er ihn später wieder vergessen hatte – aber warum inszenierte er jetzt, ein dreiviertel Jahr danach, diese aufwendige Schau?
»Zunächst noch ein technischer Hinweis«, kam seine Stimme wieder vom Band. »Ich werde die Aufnahme meiner Worte, die ich jetzt in das Mikrophon spreche, bei Rechtsanwalt Dr. Kündig in einem versiegelten Umschlag deponieren, und ich hoffe, daß noch viel Zeit verstreichen wird, bevor er das Kuvert öffnen muß. Die Vorstellung, daß mir etwas zustoßen könnte, ohne daß ich mich von euch verabschiedet hätte, bedrängt mich seit einer Weile. Es ist nicht so, daß ich eine ausgesprochene Todesahnung hätte, aber ein Mensch, der denkt, muß damit rechnen und sorgt vor, auch wenn er noch verhältnismäßig jung ist. Bereits als Kinder erfassen wir ja, daß wir mit unserer Geburt eigentlich auch zum Tode verurteilt sind. Das ganze Leben ist nur mehr oder weniger der Versuch, die Vollstreckung möglichst lange hinauszuschieben –«
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, der Kripomann Gerber zischte halblaut: »Das ist eine Blasphemie – ein Blödsinn –«
Die anderen Zuhörer wirkten verwirrt bis bestürzt; unbeeindruckt war keiner.
»Was danach kommt, wissen wir nicht – wir können allenfalls hoffen, daß es – wie auch immer – weitergeht. Entschuldigt, liebe Freunde, diesen melancholischen und philosophischen Ausrutscher, aber ich möchte euch heute einmal ernsthaft kommen. Unter anderem bin ich ja auch ein Rennfahrer, und ein solcher muß immer damit rechnen, einmal aus der Kurve geschleudert zu werden. Ich liebe das schnelle Leben, und wenn ich mich recht erinnere, haben einige von euch, vor allem du, liebe Petra, und auch du, verehrte Annette, schon ein paarmal behauptet, einer wie ich werde keinen natürlichen Tod erleiden.«
Die Stille wurde beklemmend. Einige schüttelten verständnislos den Kopf; aber die meisten erfaßten, daß es sich bei der Tonbandansprache um keinen albernen Coup handelte, sondern daß sich den lockeren Worten eine schlimme Eröffnung anschließen mußte. Das Erschrecken geisterte als unheimlicher Gast durch den Raum. Alle starrten Dr. Kündig an, als könnte er den Spuk vertreiben und das unbestimmte Entsetzen beenden.
»Aber was ein natürlicher Tod ist, darüber könnte man streiten. Wenn’s nach mir ginge, würde ich überhaupt nicht sterben. Wenn es aber schon sein muß, dann wenigstens nicht im Krankenhaus, Gefängnis oder Altersheim. Nicht daß ich erpicht darauf wäre oder daß ich etwa Selbstmordgedanken hätte. Ich liebe das Leben, wie ich an euch hänge, die Gefahr schätze und meine Freude daran habe, Geld zu verdienen und auszugeben. Es ist mir ein Bedürfnis, euch einzuladen, solange ich dazu in der Lage bin. Deshalb würde ich es hassen, einfach sang- und klanglos aus eurer Mitte zu verschwinden. Darum treffe ich nunmehr gewisse Vorbereitungen.
Ich werde bei meinem Freund und Anwalt auch einen ordentlichen Betrag hinterlegen – unter anderem zur Finanzierung dieses Abends. Ich möchte diese Runde nicht als Zechpreller verlassen.«
Flackerndes Kerzenlicht spiegelte sich auf den Gesichtern, zog Jahre ab, addierte welche hinzu, verschönerte oder vergröberte, wurde zum Zerrspiegel oder zur Schmeichelei, je nach Laune des Luftzugs. Keiner konnte sich mehr verstellen, seine wahren Empfindungen beherrschen, eine Stärke der Nerven vortäuschen, über die er nicht verfügte. Hände spielten nervös auf den Tischen, Angstschweiß wurde sichtbar.
»Wenn ich euch heute also zusammenrufe, habe ich – ohne das Datum dieses Tages zu kennen – den Löffel bereits abgegeben und bin, wie man so schön sagt, in einer anderen Welt.
Wann, warum und wie das geschehen ist, wird euch Dr. Werner Kündig erklären.
Er ist mein Testamentsvollstrecker und hat meinen ausdrücklichen Auftrag, euch über das erste Erschrecken hinwegzuhelfen, Ich bin kein Freund von Traurigkeit, und so will ich auch keine traurigen Gesichter hinterlassen. Wenn ihr vielleicht gelegentlich an mich denkt, was ich hoffe, sollt ihr die Erinnerung an einen lustigen Kerl behalten, der sich als Wellenreiter auf den Fluten unserer stürmischen Zeit versucht hat, ein paarmal abgeworfen wurde, aber immer wieder aufgestiegen ist …
So bitte ich euch jetzt, das Glas zur Hand zu nehmen und meinen albernen Trinkspruch zu verwirklichen: ›Wer trinkt, zerstört sein Leben, aber wer nicht trinkt, lebt nicht.‹
In diesem Sinne also: Servus, Petra, Annette, Christa, Annegret. Küss’ die Hand, Julia. Ciao, Fiorella. Adieu, Suzanne. Bye-Bye, Cynthia –«
Die Spule drehte leer.
Der selbstgehaltene Nekrolog war zu Ende.
Charlys Worte hatten die Anwesenden überrollt wie eine Dampfwalze, und wie nach einem Verkehrsunfall erfaßten viele nicht, was geschehen war, und wehrten sich andere gegen die Erkenntnis. Es war, wie wenn im Kino nach einem erschütternden Finale plötzlich wieder das Licht angeht und die Besucher einen Moment lang unfähig sind, zu sprechen oder sich zu erheben, weil sie erst noch ihre verstörten Gesichter ordnen müssen.
In diese Stille hinein sagte Dr. Kündig: »Ich erhebe das Glas auf Charly, der nicht mehr unter uns ist.« Die Anwesenden folgten ihm mechanisch. »Ex!« setzte der Anwalt hinzu.
Sie tranken aus.
Die