Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin. Robert Heymann
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Robert Heymann
Maria Stilke Der Roman einer Lehrerin
Saga
Maria Stilke Der Roman einer LehrerinCopyright © 1913, 2019 Robert Heymann und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711503515
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter.
Novalis.
I. Kapitel.
Maria Stilke schritt langsam und gesenkten Hauptes durch die Wiesen von Tannenau. Wo die Wege nach Niederbuchbach und Dreihügelfeld sich trennen, steht eine Madonna unter grob geschnitztem Holzdach, von Seraphinen umgeben, die eine plumpe, gläubige Hand auf hellblauen Hintergrund gemalt hat. Dieses Bildnis ist nicht ohne Kunstfertigkeit geschnitzt; dem Antlitz der Heiligen hat sein Schöpfer die natürliche helle Farbe gelassen, während die steifen Falten des Gewandes in grelle rote und blaue Farben getaucht sind. Der Betschemel davor, in Haselnussgesträuch versteckt, von Astern umstanden, ist wurmstichig und von vielen Knien gehöhlt.
Maria zählte die goldenen Schwertspitzen, die das Herz der heiligen Mutter durchbohren.
Wie sie in der Glorie ihrer Leiden dastand, hatte sie als Ausdruck naiven Glaubens und bedingungsloser Liebe etwas überwältigend Schönes. Das junge Mädchen sank in die Knie und bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen. Es waren Hände, die in der Reinheit ihres Geäders an ein Kunstwerk aus Elfenbein gemahnten; sie waren weiss und schlank und fein.
Ihr Gesichtchen war trotz des Schmerzes, der augenblicklich in ihr war, in die frohe Heiterkeit der Siebzehnjährigen getaucht. Freudige Lebensbejahung goss den Glanz der Jugend über ihre Züge, deren pikanter Reiz durch kleine Unregelmässigkeiten erhöht wurde.
Maria Stilke hatte rehbraune Augen. In ihrem Blick war ein geheimnisvolles Licht, das aus dem Grunde ihrer Seele auftauchte und die grossen Pupillen seinem Zauber erschloss.
Diese Augen beschatteten lange, schwere Wimpern. Wenn sie sich hoben, sah man in zwei lautere Quellen der Unschuld. Diese spiegelten bis jetzt keine andere Frage, als: was ist das Leben?
Doch die Frage war hinreichend gewaltig, um in Maria Stilkes jungem Herzen die Fackeln der Sehnsucht zu entzünden. Solche Sehnsucht war ihr Erbteil. Das Erbteil der Berufenen, denen bestimmt ist, zu leiden und zu irren, um dieses einzigen Paradieses willen, das nie verloren ging. Sehnsucht war der Grundzug ihres Wesens. Ungeklärt, ohne bestimmte Form, rein als Symbol des Gottgedankens in der Natur, verklärte sie die junge Gestalt und wob um ihre Flechten den Schein der Verheissung. Helle Flechten, die nicht blond und nicht dunkel waren; die bald sattrot, bald golden, bald kastanienbraun erschienen, je nachdem sich das Licht über sie breitete oder in den Zöpfen dunkle Schatten walteten.
So lag Maria Stilke, ein Bildnis der Schönheit, auf den hölzernen Stufen vor der Madonna und faltete die Hände andachtsvoll unter dem weichen Kinn.
Bauern, die vorübergingen, achteten ihrer kaum. Doch zwei Betschwestern, die keine Stunde je versäumten, Gott durch gedankenlosen Götzendienst zu erzürnen, lächelten hämisch. Die zwei alten Frauen hatten welke, runzelige Lippen von unnachahmlicher Beweglichkeit. Mit diesen Gebetmühlen glaubten sie dem Herrn zu dienen und spotteten über die stille Andacht des Kindes, dessen Seele in Wahrheit bei Gott weilte, weil sie litt.
„Die Pfarrerstochter“, sagte eine der beiden Stimmen. Der Wind aber nahm das Wort mit sich und zerpflückte es über den Feldern; so drang es nicht an das Ohr der Betenden.
Gestern erst war sie mit einer Freundin aus dem Münchener Seminar angekommen, die Ferien bei dem Pflegevater zu verbringen. Pfarrer Händel hatte sie vor vielen Jahren an Kindesstatt angenommen. Das war alles, was sie von ihm, von sich und ihren Eltern wusste. Seitdem war sie im Kloster herangewachsen, ohne dass ihr je auf die stumme, brennende Frage, die ständig auf den schmalen Lippen lag, Antwort geworden wäre. Diese Frage, durch die ihr Gesicht einen Zug rührender Nachdenklichkeit bekommen, liess sich in das beseligendste Wort jugendlicher Sehnsucht fassen: Mutter . . .
Maria Stilke erhob sich und schritt dem Dorfe zu. Sie hatte eine feine Gestalt, deren spätere Vollkommenheit jetzt schon in sicheren Konturen angedeutet war.
Das Pfarrhaus lag in der Mitte des Ortes, in ein Meer von Obstbäumen gebettet. Es hatte weisse Mauern mit hellen, grünen Fensterläden, zwischen denen Blumen blühten. Eine Mauer zog sich um den Garten, über die man mühelos blicken konnte.
Der Pfarrer stand auf der andern Seite; seine hohe Gestalt in dem schwarzen Rocke hob sich gegen die hellen Steine ab. Er hielt ein Heft in der Hand und memorierte die Predigt.
Denn es war Sonnabend.
Die Sonne stand sichtbar und flammend, wie ein goldenes Rad, an dem blauen Himmel und goss ihr weisses Leuchten über das Dorf, das Pfarrhaus und den Pfarrer selbst, dass er ganz im Lichte stand.
Maria Stilke trat schnell in das Haus. Die Köchin, die am ersten des nächsten Monats wegen übler Nachreden den Dienst verlassen sollte, wich dem Kinde aus, als sei es von giftiger Atmosphäre umgeben. Maria sah und fühlte es wohl. In ihre klaren Augen traten Tränen; sie konnte sie nicht schnell genug trocknen, um dem Pfarrer ihre Verwirrung zu verbergen.
„Was ist Dir, Maria?“ fragte er und nahm sie bei der Hand.
„Nichts, Herr Pfarrer . . . wirklich nichts . . .“
Sie versuchte, ihre Verlegenheit hinter einem erzwungenen Lächeln zu verbergen.
Er ging mit ihr tiefer in den Garten hinein. Die Köchin schlug geräuschvoll ein Fenster zu, dass einige Vögel erschreckt aus den Zweigen des Holunderstrauches aufflatterten.
„Hat man Dich gekränkt?“
„Nein, Herr Pfarrer.“
„Sprich die Wahrheit, mein Kind!“
„Anna Wagner ist mir heute ausgewichen.“
„Hattest Du Dich mit ihr verabredet?“
„Wir wollten gemeinsam einen Spaziergang untersnehmen.“
„Sie wurde vielleicht verhindert?“
„Sie liess sich verleugnen, Herr Pfarrer, denn ich habe ihr Kleid hinter dem hohen Gitter, das die Besitzung ihrer Eltern abschliesst, schimmern sehen!“
Sie schwieg eine Weile, dann setzte sie hoffnungslos hinzu, während sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt:
„Sie ist meine beste Freundin — wir siebten uns — ich fühle deutlich, dass sie sich von mir lossagen will. Man muss etwas über mich gesagt haben, das sie enttäuscht hat, und doch bin ich mir keiner Schuld bewusst.“
Der Pfarrer führte seine Pflegetochter zu einer grün gestrichenen Bank und nahm neben ihr