Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Gesammelte Werke - Heinrich Mann

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Formen sich erst in den demokratischen Mischmasch auflösen, und wo der zersetzende Standpunkt der Persönlichkeit das Übergewicht bekommt!“ Hier verschränkte Gottlieb Hornung die Arme und schob den Nacken vor. „Ich,“ rief er, „der ich einer hochfeinen Verbindung angehört habe und den freudigen Blutverlust für die Ehre der Farben kenne, ich bedanke mich dafür, daß ich Zahnbürsten verkaufen soll!“

      [pg 410]

      „Und Schwämme auch nicht?“ fragte jemand.

      „Auch nicht!“ entschied Hornung. „Ich verbitte mir ganz energisch, daß noch mal einer kommt. Man soll immer wissen, wen man vor sich hat. Jedem das Seine. Und in diesem Sinne geben wir unsere Stimme nur einem Kandidaten, der dem Kaiser so viel Soldaten bewilligt, als er haben will. Denn entweder haben wir einen Kaiser oder nicht!“

      Damit trat Gottlieb Hornung zurück und sah, den Unterkiefer vorgeschoben, aus gefalteten Brauen in das Beifallsgebrause. Der Kriegerverein ließ es sich nicht nehmen, mit geschwungenen Biergläsern an ihm und Kunze vorbeizudefilieren. Kunze nahm Händedrücke entgegen, Hornung stand ehern da – und Diederich konnte nicht umhin, mit Bitterkeit zu empfinden, daß diese beiden zweitklassigen Persönlichkeiten den Vorteil hatten von einer Gelegenheit, die sein Werk war. Er mußte ihnen die Volksgunst des Augenblicks wohl lassen, denn er wußte besser als die beiden Gimpel, wo dies hinauswollte. Da der nationale Kandidat am Ende nur dazu da war, eine Hilfstruppe für Napoleon Fischer anzuwerben, tat man gut daran, sich nicht selbst hinauszustellen. Heuteufel freilich legte es darauf an, Diederich hervorzulocken. Der Vorsitzende, Pastor Zillich, konnte ihm das Wort nicht länger verweigern, sofort begann er vom Säuglingsheim. Das Säuglingsheim sei eine Sache des sozialen Gewissens und der Humanität. Was aber sei das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Eine Spekulation, und die Eitelkeit sei noch der anständigste der Triebe, auf die spekuliert werde.... Die Lieferanten dort unten hörten zu in einer Stille voll peinlicher Gefühle, denen hier und da ein dumpfes Murren entstieg. Diederich bebte. „Es gibt Leute,“ behauptete Heuteufel, „denen es auf hundert Millionen mehr für das [pg 411]Militär nicht ankommt, denn sie wissen schon, womit sie es für ihre Person wieder hereinbringen.“ Da schnellte Diederich auf: „Ich bitte ums Wort!“ und mit Bravo! Hoho! Abtreten! explodierten die Gefühle der Lieferanten. Sie grölten, bis Heuteufel fort war und Diederich dastand.

      Diederich wartete lange, bevor das Meer der nationalen Empörung sich beruhigte. Dann begann er. „Meine Herren!“ „Bravo!“ schrien die Lieferanten, und Diederich mußte weiter warten in der Atmosphäre gleichgestimmter Gemüter, worin das Atmen ihm leicht war. Als sie ihn reden ließen, gab er der allgemeinen Empörung Worte, daß der Vorredner es habe wagen können, die Versammlung in ihrer nationalen Gesinnung zu verdächtigen. „Unerhört!“ riefen die Lieferanten. „Das beweist uns nur,“ rief Diederich, „wie zeitgemäß die Gründung der ‚Partei des Kaisers‘ war! Der Kaiser selbst hat befohlen, daß alle diejenigen sich zusammenschließen, die, ob edel oder unfrei, ihn von der Pest des Umsturzes befreien wollen. Das wollen wir, und darum steht unsere nationale und kaisertreue Gesinnung hoch über den Verdächtigungen derer, die selbst bloß eine Vorfrucht des Umsturzes sind!“ Noch bevor der Beifall losbrechen konnte, sagte Heuteufel sehr deutlich: „Abwarten! Stichwahl!“ Und obwohl die Lieferanten sogleich alles weitere im Getöse ihrer Hände erstickten, fand Diederich doch schon in diesen zwei Worten so gefährliche Andeutungen versteckt, daß er schnell ablenkte. Das Säuglingsheim war ein weniger verfängliches Gebiet. Wie? Eine Sache des sozialen Gewissens sollte es sein? Ein Ausfluß des Lasters war es! „Wir Deutschen überlassen so was den Franzosen, die ein sterbendes Volk sind!“ Diederich brauchte nur seinen Artikel aus der „Netziger Zeitung“ herzusagen. [pg 412]Der vom Pastor Zillich geleitete Jünglingsverein sowie die christlichen Handlungsgehilfen klatschten bei jedem Wort. „Der Germane ist keusch!“ rief Diederich, „darum haben wir im Jahre siebzig gesiegt!“ Jetzt war die Reihe am Kriegerverein, von Begeisterung zu dröhnen. Hinter dem Tisch des Vorstandes sprang Kühnchen auf, schwenkte seine Zigarre und kreischte: „Nu verklobben mer sie bald noch emal!“ Diederich hob sich auf die Zehen. „Meine Herren!“ schrie er angestrengt in die nationalen Wogen, „das Kaiser-Wilhelm-Denkmal soll eine Huldigung für den erhabenen Großvater sein, den wir, ich darf es sagen, alle fast wie einen Heiligen verehren, und zugleich ein Versprechen an den erhabenen Enkel, unseren herrlichen jungen Kaiser, daß wir so bleiben wollen wie wir sind, nämlich keusch, freiheitsliebend, wahrhaftig, treu und tapfer!“

      Hier waren wieder die Lieferanten nicht mehr zu halten. Selbstvergessen schwelgten sie im Idealen – und auch Diederich war sich keiner weltlichen Hintergedanken mehr bewußt, nicht seines Paktes mit Wulckow, nicht seiner Verschwörung mit Napoleon Fischer, noch seiner dunkeln Absichten für die Stichwahl. Reine Begeisterung entführte seine Seele auf einen Flug, von dem ihr schwindelte. Erst nach einer Weile konnte er wieder schreien. „Abzuweisen und mit aller Schärfe hinter die ihnen gebührenden Schranken zurückzudämmen sind daher die Anwürfe derer, die weiter nichts wollen, als uns verweichlichen mit ihrer falschen Humanität!“ – „Wo haben Sie Ihre echte sitzen?“ fragte die Stimme Heuteufels und stachelte dadurch die nationale Gesinnung der Versammelten so hoch auf, daß Diederich nur noch stellenweise zu hören war. Man verstand, er wollte keinen ewigen Frieden, denn das war ein Traum und nicht einmal ein schöner. Da[pg 413]gegen wollte er eine spartanische Zucht der Rasse. Blödsinnige und Sittlichkeitsverbrecher waren durch einen chirurgischen Eingriff an der Fortpflanzung zu verhindern. Bei diesem Punkt verließ Heuteufel mit den Seinen das Lokal. Von der Tür rief er noch her: „Den Umsturz kastrieren Sie auch!“ Diederich antwortete: „Machen wir, wenn Sie noch lange nörgeln!“ „Machen wir!“ tönte es zurück von allen Seiten. Alle waren plötzlich auf den Füßen, prosteten, jauchzten und vermischten ihre Hochgefühle. Diederich, umbraust von Huldigungen, wankend unter dem Ansturm treudeutscher Hände, die die seinen schütteln wollten, und nationaler Biergläser, die mit ihm anstießen, sah von seiner Bühne in den Saal hinaus, der seinem durch Rausch getrübten Blick weiter und höher schien. Aus den höchsten Tabakswolken glühten ihn mystisch die Gebote seines Herrn an: „Der Wille des Königs!“ „Mein Feind!“ „Mein Kurs!“ Er wollte sie in das brausende Volk hineinschreien – aber er griff sich an die Kehle, kein Ton kam mehr: Diederich war stockheiser. Da sah er sich voll Sorge nach Heuteufel um, der leider fort war. „Ich hätte ihn nicht so reizen sollen. Jetzt gnade mir Gott, wenn er mich pinselt.“

      Die schlimmste Rache Heuteufels war, daß er Diederich das Ausgehen verbot. Draußen tobte der Kampf täglich wilder, und alle standen in der Zeitung, weil alle redeten: Pastor Zillich sogar und selbst der Redakteur Nothgroschen, zu schweigen von Kühnchen, der überall zugleich redete. Nur Diederich in seinem neu altdeutsch möblierten Salon gurgelte stumm. Von der Estrade beim Fenster sahen drei Bronzefiguren in zweidrittel Lebensgröße ihm zu: der Kaiser, die Kaiserin und der Trompeter von Säckingen. [pg 414]Sie waren ein Gelegenheitskauf bei Cohn gewesen; obwohl Cohn das Heßlingsche Papier abbestellt hatte und noch immer nicht national empfand, hatte Diederich sie in seiner Einrichtung nicht missen wollen. Guste warf sie ihm vor, wenn er ihren Hut zu teuer fand.

      Guste begann in letzter Zeit launisch zu werden, auch kamen ihr Übelkeiten, während deren sie sich im Schlafzimmer von der alten Frau Heßling pflegen ließ. Sobald es ihr besser ging, erinnerte sie die Alte daran, daß hier eigentlich alles mit ihrem Geld bezahlt war. Frau Heßling verfehlte nicht, die Heirat mit ihrem Diedel als eine wahre Gnade hinzustellen für Guste, in ihrer damaligen Lage. Zum Schluß war Guste rot aufgebläht und schnaufte, Frau Heßling aber vergoß Tränen. Diederich hatte den Nutzen davon, denn beide waren nachher mit ihm die Liebe selbst, in der Absicht, ihn, der nichts ahnte, auf ihre Seite zu bringen.

      Was Emmi betraf, so schlug sie, ihrer Gewohnheit folgend, einfach die Tür zu und ging hinauf in ihr Zimmer, das eine schräge Decke hatte. Guste sann darauf, sie auch daraus noch zu vertreiben. Wo sollte man bei Regen die Wäsche trocknen. Wenn Emmi, weil sie nichts hatte, keinen Mann fand, mußte man sie eben unter ihrem Stande verheiraten, mit einem braven Handwerker! Aber freilich, Emmi spielte sich auf die Feinste in der Familie hinaus, sie verkehrte mit Brietzens.... Denn dies erbitterte Guste am meisten, Emmi ward zu den Fräulein von Brietzen eingeladen

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