Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Gesammelte Werke - Heinrich Mann

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zu erweisen. Nach dem Essen küßte er ihr die Hand, mochte Guste grinsen. Er verglich die beiden; wieviel gemeiner war Guste! Magda selbst, die er bevorzugt hatte, weil sie Erfolg gehabt hatte, kam in seiner Erinnerung nicht mehr auf gegen die verlassene Emmi. Denn Emmi war durch ihr Unglück feiner und gewissermaßen ungreifbarer geworden. Wenn ihre Hand so bleich [pg 430]und abwesend dalag und Emmi stumm in sich versenkt war wie in einen unbekannten Abgrund, fühlte Diederich sich berührt von der Ahnung einer tieferen Welt. Die Eigenschaft als Gefallene, unheimlich und verächtlich bei jeder anderen, um Emmi, Diederichs Schwester, legte sie eine Luft von seltsamem Schimmer und fragwürdiger Anziehung. Glänzender zugleich und rührender war nun Emmi.

      Der Leutnant, der das alles veranlaßt hatte, verlor erheblich gegen sie – und mit ihm die Macht, in deren Namen er triumphiert hatte. Diederich erfuhr, daß sie manchmal einen gemeinen und niedrigen Anblick bieten könne: die Macht und alles, was in ihren Spuren ging, Erfolg, Ehre, Gesinnung. Er sah Emmi an und mußte zweifeln an dem Wert dessen, was er erreicht hatte oder noch erstrebte: Gustes und ihres Geldes, des Denkmals, der hohen Gunst, Gausenfelds, der Auszeichnungen und Ämter. Er sah Emmi an und dachte auch an Agnes. Agnes, die Weichheit und Liebe in ihm gepflegt hatte, sie war in seinem Leben das Wahre gewesen, er hätte es festhalten sollen! Wo war sie jetzt? Tot? Er saß manchmal da, den Kopf in den Händen. Was hatte er nun? Was hatte man vom Dienst der Macht? Wieder einmal versagte alles, alle verrieten ihn, mißbrauchten seine reinsten Absichten, und der alte Buck beherrschte die Lage. Agnes, die nichts vermochte als leiden, es beschlich ihn, als ob sie gesiegt habe. Er schrieb nach Berlin und erkundigte sich nach ihr. Sie war verheiratet und leidlich gesund. Das erleichterte ihn, aber irgendwie enttäuschte es ihn auch.

      Aber während er, den Kopf in den Händen, dasaß, kam der Wahltag herbei. Erfüllt von der Eitelkeit der Dinge, hatte Diederich von allem, was vorging, nichts mehr sehen [pg 431]wollen, auch nicht, daß die Miene seines Maschinenmeisters immer feindlicher ward. Am Sonntag der Wahl, frühmorgens, als Diederich noch im Bett lag, trat Napoleon Fischer bei ihm ein. Ohne sich im geringsten zu entschuldigen, begann er: „Ein ernstes Wort in letzter Stunde, Herr Doktor!“ Diesmal war er es, der Verrat witterte und sich auf den Pakt berief. „Ihre Politik, Herr Doktor, hat ein doppeltes Gesicht. Uns haben Sie Versprechungen gemacht, und loyal, wie wir sind, haben wir gegen Sie nicht agitiert, sondern bloß gegen den Freisinn.“

      „Wir auch“, behauptete Diederich.

      „Das glauben Sie selbst nicht. Sie haben sich bei Heuteufel angebiedert. Er hat Ihnen Ihr Denkmal schon bewilligt. Wenn Sie nicht gleich heute mit fliegenden Fahnen zu ihm übergehen, dann tun Sie es sicher bei der Stichwahl und treiben schnöden Volksverrat.“

      Napoleon Fischer tat, die Arme verschränkt, noch einen langen Schritt auf das Bett zu. „Sie sollen bloß wissen, Herr Doktor, daß wir die Augen offen halten.“

      Diederich sah sich in seinem Bett hilflos dem politischen Gegner ausgeliefert. Er suchte ihn zu besänftigen. „Ich weiß, Fischer, Sie sind ein großer Politiker. Sie sollten in den Reichstag kommen.“

      „Stimmt.“ Napoleon blinzte von unten. „Denn wenn ich nicht hineinkomme, dann geht in Netzig in mehreren Betrieben ein Streik los. Einen von den Betrieben kennen Sie ziemlich genau, Herr Doktor.“ Er machte kehrt. Von der Tür her faßte er Diederich, der vor Schreck ganz in die Federn gerutscht war, nochmals ins Auge. „Und darum hoch die internationale Sozialdemokratie!“ rief er und ging ab.

      Diederich rief aus seinen Federn: „Seine Majestät, der Kaiser hurra!“ Dann aber blieb nichts übrig, als [pg 432]der Lage ins Gesicht zu sehen. Sie sah drohend genug aus. Schwer von Ahnungen eilte er auf die Straße, in den Kriegerverein, zu Klappsch, und überall mußte er erkennen, daß in den Tagen seiner Mutlosigkeit die tückische Taktik des alten Buck weitere Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte. Die Partei des Kaisers war verwässert durch Zulauf aus den Reihen des Freisinns und der Abstand Kunzes von Heuteufel unbeträchtlich gegen die Kluft zwischen ihm und Napoleon Fischer. Pastor Zillich, der mit seinem Schwager Heuteufel einen verschämten Gruß austauschte, erklärte, daß die Partei des Kaisers mit ihrem Erfolg zufrieden sein dürfe, denn sicher habe sie dem Kandidaten des Freisinns, wenn er schließlich siege, das nationale Gewissen gestärkt. Da Professor Kühnchen sich ähnlich äußerte, war der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß ihnen die von Diederich und Wulckow erpreßten Versprechungen noch nicht genügten, und daß sie sich durch weitere persönliche Vorteile vom alten Buck hatten gewinnen lassen. Der Korruption des demokratischen Klüngels war alles zuzutrauen! Was Kunze betraf, so wollte er auf jeden Fall selbst gewählt werden, notfalls mit Hilfe der Freisinnigen. Ihn hatte sein Ehrgeiz korrumpiert, er hatte ihn schon dahin gebracht, zu versprechen, daß er für das Säuglingsheim eintreten werde! Diederich entrüstete sich; Heuteufel sei hundertmal schlimmer als irgendein Prolet; und er spielte auf die düsteren Folgen an, die eine so unpatriotische Haltung haben müsse. Leider durfte er nicht deutlicher werden – und vor sich das Bild des Streiks, im Herzen schon die Trümmer des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, Gausenfelds, aller seiner Träume, lief er im Regen umher zwischen den Wahllokalen und schleppte gutgesinnte Wähler herbei, [pg 433]im vollen Bewußtsein, daß ihre Kaisertreue den Weg verfehlte und den schlimmsten Feinden des Kaisers helfe. Abends bei Klappsch, kotbespritzt bis an den Hals und fiebrig entrückt durch den Lärm des langen Tages, durch das viele Bier und das Nahen der Entscheidung, vernahm er das Ergebnis: gegen achttausend Stimmen für Heuteufel, sechstausend und einige für Napoleon Fischer, Kunze aber hatte dreitausendsechshundertzweiundsiebzig. Stichwahl zwischen Heuteufel und Fischer. „Hurra!“ schrie Diederich, denn nichts war verloren und Zeit war gewonnen.

      Mit starkem Schritt ging er von dannen, den Schwur im Herzen, daß er fortan das Äußerste tun werde, um die nationale Sache noch zu retten. Es eilte, denn Pastor Zillich hätte am liebsten sofort alle Mauern mit Zetteln bedeckt, die den Anhängern der Partei des Kaisers empfahlen, in der Stichwahl für Heuteufel zu stimmen. Kunze freilich gab sich der eitlen Hoffnung hin, Heuteufel werde ihm zu Gefallen zurücktreten. Welche Verblendung! Gleich am Morgen las man die weißen Zettel, auf denen der Freisinn heuchlerisch erklärte, national sei auch er, die nationale Gesinnung sei nicht das Privileg einer Minderheit, und darum –. Der Trick des alten Buck enthüllte sich vollends; wenn nicht die ganze Partei des Kaisers in den Schoß des Freisinns zurückkehren sollte, hieß es handeln. Mächtig von Energie gespannt, traf Diederich von seinen Erkundigungen heimkehrend, im Hausflur auf Emmi, die einen Schleier vor dem Gesicht hatte und sich bewegte, als sei alles gleich. „Danke,“ dachte er, „es ist durchaus nicht gleich. Wohin kämen wir.“ Und er grüßte Emmi verstohlen und mit einer Art von Scheu.

      Er zog sich in sein Bureau zurück, aus dem der alte Sötbier verschwunden war und wo nun Diederich, sein eigener [pg 434]Prokurist und nur seinem Gott verantwortlich, seine folgenschweren Entschlüsse faßte. Er trat zum Telephon, er verlangte Gausenfeld. Da ging die Tür auf, der Briefträger legte seinen Packen hin, und Diederich sah obenauf: Gausenfeld. Er hängte wieder ein, er betrachtete, nickend wie das Schicksal, den Brief. Schon gemacht. Der Alte hatte ohne Worte begriffen, daß er seinen Freunden Buck und Konsorten kein Geld mehr geben dürfe, und daß man nötigenfalls imstande sei, ihn persönlich verantwortlich zu machen. Gelassen zerriß Diederich den Umschlag – aber nach zwei Zeilen las er fliegend. Was für eine Überraschung! Klüsing wollte verkaufen! Er war alt, er sah seinen natürlichen Nachfolger in Diederich!

      Was hieß dies? Diederich setzte sich in die Ecke und dachte tief. Es hieß vor allem, daß Wulckow schon eingegriffen hatte. Der Alte war in blasser Angst wegen der Regierungsaufträge, und der Streik, mit dem Napoleon Fischer drohte, gab ihm den Rest. Wo war die Zeit, als er sich aus der Klemme zu ziehen glaubte, wenn er Diederich einen Teil des Papiers für die „Netziger Zeitung“ anbot. Jetzt bot er ihm ganz Gausenfeld an! „Man ist eine Macht“, stellte Diederich fest – und es ging ihm auf, daß Klüsings Zumutung, die Fabrik zu kaufen und richtig nach ihrem Wert zu bezahlen, wie die Dinge lagen, einfach lächerlich sei. Worauf er wirklich laut lachte ... Da nahm er wahr, daß am Schlusse des Briefes, nach der Unterschrift, noch etwas stand, ein Zusatz, kleiner geschrieben als das übrige und so unscheinbar, daß

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