Michael Unger . Ricarda Huch

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Michael Unger  - Ricarda Huch

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hochgewachsene Erscheinung, mit jungen Augen in einem sehr länglichen, vornehmen Gesicht, in vielen Zügen ihrem Vetter ähnlich. Sie lebte zurückgezogen und sah nur den Freiherrn und die wenigen Personen, die er ihr zuführte, bei sich. Obwohl sie nicht ohne aristokratische Vorurteile war, ließ sie doch auch entgegengesetzte Denkart sich frei äußern, wie sie überhaupt gegen jedermann von zugleich stolzer und gewinnender Liebenswürdigkeit war. Mit ihrem würdevollen Wesen und ihrem lebhaften Geiste, den sie stets nur in maßvoller Ruhe äußerte, war sie Michael äußerst sympathisch: auch gefiel ihm die herzliche, höfliche und wahrhaft freundschaftliche Art ihres Verkehrs mit dem Freiherrn.

      Es mochte Michaels Bewunderung für seine Verwandte sein, die den Freiherrn eines Tages bewog, ihm zu erzählen, welcher Art eigentlich die Beziehungen waren, die ihn mit ihr verbanden; sie war nämlich seine erste Frau, die er als junger Mann geheiratet und mit der er beinahe zwanzig Jahre lang in kinderloser Ehe glücklich gelebt hatte. Auf einer Reise nach Italien, wo sie ihn nicht begleitete, hatte ihn die prickelnde Lebhaftigkeit, das schöne suchende Feuer eines jungen Mädchens angezogen, das sich eben mit ganzer Seele in die Fülle Italiens hineingeworfen hatte, um ihren unbestimmten Hunger auf irgendeine Art zu sättigen. Ohne daß man von den gegenseitigen Lebensverhältnissen etwas wußte, machte sich der Freiherr zu ihrem Führer und suchte etwas Ordnung in ihre chaotischen Bestrebungen zu bringen, wobei sie sich dermaßen in ihn verliebte, daß er sie heiratete, ungeachtet der vorher eingegangenen und noch bestehenden ehelichen Verbindung. Da er und seine erste Frau Angehörige der russischen Ostseeprovinzen waren, wohin er nicht zurückkehrte, wurde es möglich, das unerlaubte Verhältnis geheimzuhalten. Nach einer Reihe von Jahren ließ sich diese unter ihrem Mädchennamen in der Stadt, wo er wohnte, nieder, und es war seitdem kaum ein Tag vergangen, wo er sie nicht besucht und einige Stunden bei ihr zugebracht hätte. Mit seiner zweiten Frau machte er sie nicht bekannt, weil sie, was er nur ihr offenbarte, durch seelische Verfettung ungenießbar geworden sei.

      Anfangs über diese Mitteilung verdutzt, bewunderte Michael doch schließlich den Freiherrn nur um so mehr wegen der Leichtigkeit und Seelenruhe, mit der er so verzwickte Verhältnisse sowohl innerlich wie äußerlich beherrschte. Höchlich verwundert war er freilich, als der Freiherr es ihm eines Tages als bedauerliche Torheit vorhielt, daß er schon geheiratet hätte; die Liebe, sagte er, sei ein Götterding, das man nicht an den Pflug spannen sollte; für die Leute, die in die Besserungsanstalt gehörten, sei das Heiraten schon gut, aber es sei schade, wenn man die feinen und guten mit den Bestien in denselben Käfig sperrte.

      Michael konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Aber Sie selbst stecken ja ganz erheblich darin!«

      »Das sollte man meinen«, erwiderte der Freiherr vergnügt, »aber ich hänge nur in effigie darin. Meine Seele ist immer ledig geblieben, Familienglück finden Sie bei mir nicht. Heillose Bürgerzeche, wo zwölf Personen die Knochensuppe voll Fettaugen aus einer Schüssel essen und sich hernach heimlich mit den schmutzigen Löffeln prügeln! Die Liebe ist bei den meisten Menschen doch nur ein barbarisches Talgfressen, indem sie sich etwas in den Magen stopfen, was man verbrennen sollte, damit es eine leuchtende Kraft wird.«

      »Was ich esse, ernährt mittelbar auch mein Gehirn und wird also Licht«, sagte Michael, den das Gespräch auf allerlei unliebsame Gedanken brachte, langsam.

      »Meinetwegen«, sagte der Freiherr, »aber unverdaulich ist das Zeug doch, und wenn ich nicht irre, liegt es Ihnen schon schwer im Magen.«

      Michael konnte in diesem Punkte seine Anschauungen nicht mit denen des Freiherrn in Übereinstimmung bringen. Seine Überzeugung, daß die Familie die Grundlage des menschlichen Glückes und der menschlichen Erziehung sei, wollte und konnte er nicht preisgeben, wenn er auch zugab, daß nirgends wie hier sich menschliche Schwachheit breitmache. Obwohl sein Streben augenblicklich durchaus nach Freiheit stand, fühlte er sich doch unlösbar mit der Familie verbunden und vermochte sich die Zukunft, so verschieden von der Vergangenheit sie auch sein sollte, nicht ohne Familie zu denken.

      Er versetzte sich in die Zeit zurück, wo er Verena liebgewonnen und mit Ungeduld den Tag herbeigesehnt hatte, wo er sie heimführen sollte. Das Ziel hatte er von Anfang an im Auge gehabt, und mußte sich jetzt noch sagen, daß das selbstverständlich und ganz in Ordnung gewesen war.

      Dann besann er sich, daß er als zwanzigjähriger junger Mensch einmal ein Mädchen aus niederem Stande geliebt hatte, ein liebes, warmherziges Ding, das aufzugeben ihn unsägliche Schmerzen, jetzt vergessene, kaum noch eines wehmütigen Lächelns werte, gekostet hatte; später hatte er Gott gedankt, daß er frei geblieben war. Ebenso mochte es jetzt seinem Bruder Raphael gehen, der in eine Kellnerin verliebt war und Lust hatte, sie zu heiraten. Michael hatte ihm nachdrücklich davon abgeredet und war überzeugt, daß er nach geraumer Zeit, wenn er die Sache überwände, darüber froh sein würde.

      Aber er konnte sich nicht verbergen, daß er jetzt glücklich sein würde, wenn er Verena nicht geheiratet hätte. War das ein Beweis, daß sie auch nicht die Rechte gewesen war? Daß er ebensogut jene andere, Längstvergessene hätte heiraten können? Oder daß er wankelmütig oder charakterlos war? Er fühlte, daß das nicht der Fall war, und fand auch nichts anderes, das ihm Klarheit gab. Wie eine Erlösung kam ihm der Gedanke an Mario, das Kind, das er mehr als sich selbst liebte, das Kleinod, das seiner Ehe Wert verlieh, wie wenig echt und gediegen sie übrigens sein oder werden möchte.

      Er sagte sich, daß der Freiherr, dessen einziges Kind, das ihm seine zweite Frau geboren hatte, nur einige Wochen gelebt hatte, das Wesen der Ehe, ihre Kraft, ihre Schönheit, ihre Heiligung nicht begreifen könnte. Mochte er auch noch so sehr wünschen, Verena nicht geheiratet zu haben, konnte er jemals wünschen, daß Mario nicht da wäre? Zugleich erschreckte es ihn, daß er somit selbst das Band, das ihn an Verena knüpfte, unzerreißbar nannte. Faßte er aber auch nur einen Augenblick den Gedanken, wie es wäre, wenn er Mario nie gesehen hätte, oder ob er ihn allenfalls jetzt noch vergessen könnte, so überwältigte ihn gleich darauf die Angst um das kleine Geschöpf, als könnte es ihm entrissen werden, bis zu solchem Grade, daß es ihm schien, er müsse alles, was ihm hier so lieb und teuer geworden war, über den Haufen werfen und nach Hause eilen, nur um sich des kleinen zutraulichen Lebens, das auf immer zu seinem gehörte, aufs neue versichert zu fühlen.

      Daß Michael zu Weihnachten, weil es der Kürze der Ferien wegen nicht der Mühe wert wäre, nicht nach Hause kommen wollte, veranlaßte einen unerfreulichen Briefwechsel mit seiner Familie, namentlich mit Verena. Unerwarteterweise aber schickte sie ihm, einer schönen Aufwallung nachgebend, zum Weihnachtstage das Bild des kleinen Mario, das Rose gemalt hatte, und das sie ihm, als er abreiste, trotz seines dringenden Wunsches nicht hatte mitgeben wollen. Der Freiherr hatte ihn aufgefordert, den Weihnachtsabend bei ihm zuzubringen, aber er konnte sich nun doch nicht entschließen, unter Menschen zu gehen, und saß traurig in seinem halbdunklen Zimmer vor dem gemalten Kinderbilde mit den süßen Augen, während ein föhniger Wind von Zeit zu Zeit Wirbel von Schneeflocken am Fenster vorbeijagte. Er hatte noch niemals einen Weihnachtsabend ohne seine Eltern und ohne Weihnachtsbaum erlebt, und obwohl er mit Bewußtsein schon lange keinen Wert mehr darauf legte, fühlte er sich nun entwurzelt und ungewissen Mächten preisgegeben.

      Indessen trat nach Neujahr eine frische Kälte ein, in der die trüben Stimmungen sich schnell verzogen; auf den Dächern, Hügeln und Tannenwäldern glänzten die glatten Schneemassen, und die helle, kristallene Bläue des Himmels wölbte sich funkelnd darüber. Es gab in der Umgebung der Stadt einen kleinen See, der in den kalten Wintermonaten zufror, und wo dann Schlittschuh gelaufen wurde, ein Vergnügen, dem der Freiherr sehr ergeben war. Am Nachmittag eines Wochentages, wo nicht viele Menschen dort zu vermuten waren, führte er Michael hinaus, in heiterster Laune, wie ein Knabe ganz von der bevorstehenden Lust erfüllt. Man ließ ein Dorf und mehrere Höfe auf spärlich bewaldeten Hügeln hinter sich und gelangte endlich in ein breites Tal, wo der See lag, den im Hintergrunde aufsteigende Tannenwälder abschlossen. Michael war ein guter Schlittschuhläufer, konnte sich aber nicht mit dem Freiherrn messen, der nicht nur die schwierigsten Kunststücke mit Anmut ausführte, sondern auch im einfachen

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