Der Fall Deruga. Ricarda Huch
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Читать онлайн книгу Der Fall Deruga - Ricarda Huch страница 3
Der Vorsitzende unterdrückte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen fort: »Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und übten dort Ihre Praxis aus, während Frau Swieter sich in München niederließ, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf weitere Jahre werden wir gelegentlich zurückkommen. Erzählen Sie uns jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.«
»Da ich kein Tagebuch führe«, sagte Dr. Deruga laut, »noch meine täglichen Verrichtungen durch einen Kinematographien oder ein Grammophon aufnehmen lasse, ist es mir leider unmöglich, Ihnen den Verlauf des Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben gefrühstückt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach eine Stunde im Café gesessen haben. Dann werde ich in der Stunde mehrere Exemplare der mir unsympathischen Gattung Mensch untersucht haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanständige Dame zu besuchen. In der Nähe des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen, der mich fragte, ob ich auch in den ärztlichen Verein ginge. Ich sagte, ich könne leider nicht, da ich verreisen müsse. Worauf er mich bis zum Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach München, weil ich ja sonst meine Lüge hätte zugestehen müssen und auch weil mir eingefallen war, daß auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher wäre, nicht kompromittiert zu werden.«
»Weigern Sie sich nach wie vor«, fragte Dr. Zeunemann, »den Namen dieser hochanständigen Dame zu nennen?«
»Ich habe ja schon gesagt, daß mir daran liegt, sie nicht zu kompromittieren«, antwortete Deruga.
»Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga«, sagte Dr. Zeunemann warnend, »daß Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen Füßen steht. Sollte eine Dame zulassen, daß sich ein Freund um ihretwillen in solche Gefahr begibt? Da möchte man schon lieber annehmen, daß diese Dame gar nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der Wahrscheinlichkeit. Daß Sie eine Dame besuchten und Tage und Nächte bei ihr zubrachten, wäre an sich bei Ihrer Lebensführung nicht unglaublich. Auch das mag hingehen, daß Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gewählt haben wollen, kann man nur als ungeeignet und lächerlich bezeichnen. Jemand, der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht zweiunddreißig Mark für eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.«
»Einunddreißig Mark fünfundsiebzig Pfennige«, verbesserte Deruga.
»Die Karte von München nach Prag kostet zweiunddreißig Mark«, sagte Dr. Zeunemann scharf.
»Der umgekehrte Wagen ist fünfundzwanzig Pfennige billiger«, beharrte Deruga.
»Lassen wir den Wortstreit«, sagte Dr. Zeunemann. »Man wirft auch einunddreißig Mark und fünfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in Geldverlegenheit ist.«
»Ein verständiger Deutscher wohl nicht«, entgegnete Deruga, »aber ich habe größere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. Übrigens war ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.«
Der Staatsanwalt rang die Hände und wendete die Blicke nach oben, wie wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte. Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, daß der Angeklagte genug Geld für eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt hätte.
Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll Geld hervor und zählte: »Sechzig, dreiundsechzig, siebzig, vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich könnte auf der Stelle nach Prag reisen, wenn ich es nicht vorzöge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu bleiben.«
»Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?« rief der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen kreischenden Ton annahm.
»Oh, dazu reichte es bei weitem nicht«, lachte Deruga, »ich hatte nur so viel, um meine täglichen Bedürfnisse zu befriedigen.«
Der Vorsitzende erklärte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung für beendet. »Sie bleiben also dabei, Angeklagter«, fragte er, »daß Sie zum Schein eine Fahrkarte nach München lösten? Was brachte Sie gerade auf München?«
»Das ist eine schwierige Frage«, sagte Deruga, »hätte ich eine Karte nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebensogut stellen. Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben und ob sie gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und Rachenkrankheiten.«
»Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gelöst hatten?« fragte der Vorsitzende weiter.
»Ich stellte mich an die Barriere«, erzählte Deruga, »ging, als sie geöffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels einer vorher gelösten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon öfter genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober blieb.«
»Die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich«, sagte Dr. Zeunemann. »Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner Praxis wegbleiben?«
»Ich bin der Ansicht«, sagte Deruga, »daß nicht ich für die Praxis da bin, sondern daß die Praxis für mich da ist.«
»Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt«, meinte Dr. Zeunemann.
»Warum?« antwortete Deruga leichthin. »Die meisten Patienten können sehr gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchen überhaupt nicht zu kommen. Wichtige Fälle hatte ich damals noch nicht.«
»Ihre Patienten waren allerdings nicht verwöhnt«, sagte Dr. Zeunemann. »In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren, weil Sie nachlässig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren. Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, daß Sie außer der Zeit, ohne Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen Aussage, die von Ihrer Haushälterin bestätigt wurde, am 3. Oktober kurz vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beiläufig sei bemerkt, daß der von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag eintrifft.
Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertrösten lassen. Sie weigerten sich aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert gewesen wären, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer Haushälterin, müde wären und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame muß also sehr anstrengend gewesen sein.«
»Ich finde Frauen immer anstrengend«, sagte Deruga, »besonders wenn sie dumm sind.«
»Nehmen wir also an«, sagte der Vorsitzende, während der Staatsanwalt die Hände rang und seine unter diabolisch geschwänzten Brauen fast verschwindenden Augen zum Himmel richtete, »daß die Ihnen befreundete Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen wichtigen Punkt über! Wollen Sie erzählen, wann und wie Sie von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Vermögens einsetzte!«
»Anfang November«, sagte Deruga, »das Datum habe ich mir nicht gemerkt, durch die zuständige Behörde.«
»Sie sollen«, sagte Dr. Zeunemann, »Ihr Erstaunen und Ihre Freude lebhaft geäußert haben. Ich bemerke«, wiederholte er mit Nachdruck gegen die Geschworenen, »daß andere Personen dies bezeugen: Erstaunen und Freude.«
»Oh, edler Richter, wack'rer Mann«, sagte Deruga lächelnd.
»Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen«,