Der Fall Deruga. Ricarda Huch
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Читать онлайн книгу Der Fall Deruga - Ricarda Huch страница 6
»Sie waren«, fuhr der Vorsitzende fort, »derjenige Kollege, dem der Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der Nähe des Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ärztlichen Verein wolle?«
»Jawohl«, sagte der Hofrat. »Ich stellte die Frage, weil ich mich nach dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte. Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir in der Nähe des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe fiel mir auf, weil es größer war, als Herren unserer Gesellschaftskreise solche zu tragen pflegen.«
Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei.
»Ich erlaubte mir allerdings«, sagte Deruga, »als ein armer Teufel, der sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von Mäulchen gehören zu wollen, ein Paket zu tragen. Darin wird Wäsche und dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.«
Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, daß festgestellt werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte, ein Paket bei sich gehabt habe.
»Die Haushälterin wird gleich vernommen werden«, sagte der Vorsitzende. »Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. Können Sie sonst etwas Sachdienliches mitteilen?«
»Nein, durchaus nicht«, beteuerte der Hofrat. »Gerüchte und Schwätzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten Fällen nicht in Betracht gezogen werden sollte.«
»Vielleicht könnten Sie uns doch sagen«, fragte der Vorsitzende, »was für einen Ruf Dr. Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen genoß?«
»Ich glaube nicht, daß meine diesbezüglichen Mitteilungen einen namhaften Wert für Sie hätten«, entschuldigte sich der Hofrat. »Aus dem, was ich erzählt habe, läßt sich ja schon mancherlei schließen. Den sicheren Boden der Tatsachen möchte ich nicht verlassen.«
Weinhändler Verzielli, der nächste Zeuge, war ein untersetzter, dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest auf den Präsidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete.
»Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?« fragte Dr. Zeunemann.
»Befreundet, sehr befreundet«, sagte Verzielli eifrig.
»Aber nicht verwandt?« wiederholte Dr. Zeunemann.
»Leider nicht«, sagte Verzielli, »aber sehr befreundet. Ich liebe und bewundere ihn.«
»Sie fühlen sich ihm zu Dank verpflichtet«, sagte der Vorsitzende freundlich, »weil er durch einen guten Rat und auch durch eine Geldsumme, die er Ihnen vorschoß, Ihr Glück begründet hatte?«
»Ach, Rat und Kapital, das ist alles nicht die Hauptsache«, rief Verzielli aus. »Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist edel und hilfsbereit.«
»Sie konnten ihm das Geliehene bald zurückgeben«, fuhr der Vorsitzende fort, »und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld geborgt?«
»Das ist ja gar nicht der Rede wert«, sagte Verzielli, Kopf und Hand schüttelnd, »wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. Übrigens hat er mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedrängt. Er verstand ja nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.«
»Hat er Ihnen jemals Geld zurückgezahlt?«
»O ja«, rief Verzielli stolz, »auch in bezug auf das Rückständige fragte er mich öfter, ob ich es brauche. Aber wozu hätte ich es brauchen sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiedergäbe. Meine Frau war auch der Meinung, man dürfe ihn nicht drängen.«
»Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige Schenkungen oder eine etwaige Erbschaft von Seiten seiner geschiedenen Frau vertröstet?«
»Zu vertrösten brauchte er mich nicht«, sagte Verzielli ein wenig gereizt. »Aber natürlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind sehr geliebt. Meine Frau und ich haben oft geweint, wenn er davon sprach.«
Er zog bei diesen Worten ein großes, buntes Taschentuch hervor und fuhr sich damit über Stirn und Augen, sei es um sich Tränen oder Schweiß damit zu trocknen.
»Ich bitte Sie«, sagte Dr. Zeunemann freundlich, »genau auf meine Fragen zu achten und sie kurz und deutlich zu beantworten. Hat der Angeklagte Ihnen zuweilen von einer Aussicht gesprochen, Geld von seiner geschiedenen Frau zu erhalten, sei es bei ihren Lebzeiten oder nach ihrem Tode?«
»Ich glaube«, sagte Verzielli, sein Taschentuch quetschend, »er sagte gelegentlich einmal, seine geschiedene Frau sei reich, und er sei überzeugt, sie würde ihm geben, was er brauchte, wenn er sie darum bäte.«
»Erinnern Sie sich, wann er Ihnen das gesagt hat?«
»Ich glaube«, sagte Verzielli, »daß es in der letzten Zeit nicht gewesen ist.«
»Wir kommen jetzt«, sagte der Vorsitzende, nach einem leichten Räuspern die Stimme hebend, »zu einem sehr wichtigen Punkt, und ich fordere Sie auf, Herr Verzielli, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Gedächtnis energisch zusammenzufassen. Denken Sie vor allen Dingen nicht daran, welche Folgen Ihre Aussagen für den Angeklagten haben könnten, sondern nur daran, daß Sie einen Eid geschworen haben, die Wahrheit zu sagen!«
Verzielli richtete sich stramm auf, blickte dem Vorsitzenden fest ins Auge und umfaßte krampfhaft sein Taschentuch.
»Erzählen Sie uns genau mit allen Einzelheiten, wie es sich begab, daß Sie von dem Gerücht, Dr. Deruga habe seine Frau ermordet, erfuhren, und daß Sie ihn davon in Kenntnis setzten!«
Verzielli schwieg und starrte angelegentlich in einen Winkel, augenscheinlich bemüht, seine Gedanken zu sammeln.
»Ich will Ihnen zu Hilfe kommen«, sagte Dr. Zeunemann nachsichtig. »Am Abend des 25. November kam Cavaliere Faramengo, der italienische Konsul, in Ihr Restaurant, um ein Glas Wein zu trinken, wie er zuweilen tat. Er fragte Sie nach dem Angeklagten aus, und Sie erfuhren von ihm, daß von München aus Erkundigungen über ihn eingezogen wären und daß er im Verdacht stehe, seine geschiedene Frau, die Anfang Oktober gestorben war und ihn zum Erben ihres Vermögens eingesetzt hatte, ermordet zu haben. Außer sich vor Entrüstung liefen Sie sofort zu dem Angeklagten, erzählten ihm alles und sagten, wenn Sie nur wüßten, wer der Verleumder wäre, Sie würden ihn töten. Der Angeklagte sagte lachend: ›Dummkopf, ich habe es ja getan.‹ Das ist, was der Untersuchungsrichter nicht ohne Mühe aus Ihnen herausgebracht hat. Bestätigen Sie jetzt vor dem versammelten Gericht und vor den Geschworenen?«
»Es ist wahr, daß Dr. Deruga sagte: ›Dummkopf, ich habe es ja getan‹, aber er hatte nur insofern recht, als er mich einen Dummkopf nannte, denn er meinte ...«
»Bleiben Sie bei der Sache!« sagte Dr. Zeunemann. »Was antworteten Sie darauf?«
»Ich sagte, das wäre nicht möglich, und davon war ich auch überzeugt, daß es unmöglich wäre; aber in