Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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»Ein bedauerlicher Unfall, der unserem ausgezeichneten Mitarbeiter Herrn Aristides Rougon zugestoßen, wird uns durch einige Zeit seiner Artikel berauben. Es wird ihm schwer fallen, unter den augenblicklichen ernsten Verhältnissen Stillschweigen zu beobachten; doch wird sicherlich keiner unserer Leser an seinen patriotischen Wünschen für das Wohlergehen Frankreichs zweifeln.«
Diese vieldeutige Notiz war von Aristides reiflich erwogen worden. Der letzte Satz konnte zugunsten einer jeden Partei ausgelegt werden. In dieser Weise sicherte sich Aristides nach dem Siege einen ungetrübten Wiedereintritt in sein Blatt durch eine Lobrede auf die Sieger.
Am folgenden Tage zeigte er sich in der ganzen Stadt mit dem Arm in der Binde. Infolge der Notiz eilte seine Mutter erschrocken herbei; doch weigerte er sich, ihr seine Hand zu zeigen und sprach zu ihr mit einer gewissen Bitterkeit, die die alte Frau sogleich aufklärte.
Es wird nichts sein, sagte sie, indem sie ihn beruhigt verließ. Du bedarfst nur der Ruhe, fügte sie einigermaßen spöttisch hinzu.
Der »Unabhängige« hatte es ohne Zweifel diesem vorgeblichen Unfall seines Redakteurs und der Abreise des Unterpräfekten zu danken, daß er nicht behelligt wurde wie die meisten demokratischen Blätter der Provinz.
Der 4. Dezember verlief in Plassans in verhältnismäßiger Ruhe. Am Abend fand eine Kundgebung des Volkes statt; doch das bloße Erscheinen der Gendarmen genügte, die Ansammlung zu zerstreuen. Eine Gruppe von Arbeitern hatte von Granoux die Mitteilung der aus Paris eingelangten Depeschen gefordert; doch dieser weigerte sich hochmütig. Die Leute zogen ab und riefen: »Es lebe die Republik! Es lebe die Verfassung!« Dann wird wieder alles ruhig. Der gelbe Salon besprach lange diesen harmlosen Spaziergang des Volkes und erklärte sich schließlich mit dem Gange der Dinge hoch befriedigt.
Beunruhigender ließen sich die Tage vom 5. und 6. Dezember an. Man bekam allmählich Nachricht von dem Aufstande der benachbarten kleinen Städte. Der ganze Süden des Bezirks griff zu den Waffen; La Palud und Saint-Martin-de-Vaulx hatten sich zuerst erhoben und die Dörfer Chavanos, Nazères, Poujols, Valqueyras, Vernoux mitgerissen. Der gelbe Salon erschrak ernstlich. Die Leute ängstigte vornehmlich die Tatsache, daß Plassans vereinsamt inmitten dieses Herdes der Empörung lag. Es war vorauszusehen, daß aufrührerische Banden die Gegend durchziehen und allen Verkehr unterbrechen würden. Granoux erzählte mit verstörter Miene, der Herr Bürgermeister sei ohne Nachrichten. Leute wußten zu erzählen, das Blut fließe in den Straßen von Marseille, und eine fürchterliche Revolution sei in Paris ausgebrochen. Der Major Sicardot war entrüstet über die Mattherzigkeit dieser Spießbürger und rief, er sei bereit, an der Spitze seiner Leute zu sterben.
Am 7. Dezember, einem Sonntag, erreichte der Schreck seinen Höhepunkt. Im gelben Salon, wo eine Art reaktionäres Komitee dauernd tagte, versammelte sich von sechs Uhr ab eine Menge schreckensbleicher, angstbebender Menschen, die leise untereinander flüsterten wie in einem Totenzimmer. Man hatte im Laufe des Tages erfahren, daß eine Bande Aufständischer, etwa dreitausend Mann stark, in Alboise, einem drei Stunden entfernten Dorfe, sich angesammelt habe. In Wahrheit wurde nur erzählt, daß diese Bande, Plassans links lassend, nach dem Hauptorte des Bezirks zu marschieren beabsichtige; allein dieser Feldzugsplan konnte ja auch geändert werden und übrigens genügte es diesen feigen Rentenbesitzern, die Aufständischen in einer Entfernung von einigen Kilometern zu wissen, damit sie sich einbildeten, daß rohe Arbeiterfäuste sie schon an der Kehle faßten. Sie hatten schon am Morgen einen Vorgeschmack von der Empörung gehabt; als nämlich die wenigen Republikaner in Plassans sahen, daß sie in der Stadt nichts Ernstliches unternehmen könnten, hatten sie beschlossen, zu ihren Brüdern in La Palud und Saint-Martin-de-Baulx zu stoßen; eine erste Gruppe war gegen elf Uhr, die Marseillaise singend und einige Fensterscheiben einwerfend, durch das römische Tor abgezogen. Herrn Granoux war ebenfalls ein Fenster eingeworfen worden, und er erzählte dieses Ereignis schreckensbleich seinen Gesinnungsgenossen.
Die Gesellschaft des gelben Salons war in lebhafter Angst. Der Major hatte seinen Diener ausgesendet, um genaue Erkundigungen über den Marsch der Aufrührer einzuholen; man erwartete die Rückkehr dieses Mannes und erging sich inzwischen in erstaunlichsten Vermutungen. Die Versammlung war vollzählig; Roubier und Granoux saßen schier regungslos in ihren Sesseln und warfen einander Jammerblicke zu, während hinter ihnen die erschrockene Gruppe der Kaufleute im Ruhestande schwere Seufzer ausstieß. Vuillet schien nicht allzusehr erschrocken und dachte über die Maßregeln nach, die er ergreifen werde, um seinen Geschäftsladen und seine Person zu schützen; er erwog, ob er sich in seinem Speicher oder in seinem Keller verbergen solle, und neigte dem Keller zu. Peter und der Major schritten im Salon auf und ab und tauschten von Zeit zu Zeit eine Bemerkung aus. Der ehemalige Ölhändler klammerte sich an seinen Freund Sicardot, um bei diesem Mut zu schöpfen. Er, der seit so langer Zeit die Krise erwartete, suchte sich jetzt eine feste Haltung zu geben, obgleich die Aufregung ihm die Kehle zuschnürte. Was den Marquis betrifft, so war er geschniegelter und heiterer als je und plauderte in einem Winkel mit Felicité, die sehr aufgeräumt schien.
Endlich ward geläutet. Die Herren erschraken, als hätten sie einen Flintenschuß gehört. Während Felicité hinausging, um zu öffnen, herrschte Grabesstille in dem Salon; die bleichen, angstvollen Gesichter wandten sich der Tür zu. Der Diener des Majors erschien auf der Schwelle; er war völlig außer Atem und rief seinem Herrn zu:
Herr Major! In einer Stunde werden die Aufständischen hier sein!
Das wirkte wie ein Donnerschlag, Alle fuhren schreiend empor und streckten die Hände gen Himmel. Es währte einige Minuten, bis man sich verständlich machen konnte. Man umdrängte den Boten und bestürmte ihn mit Fragen.
Tausend Teufel, jammert doch nicht so! schrie der Major. Ruhe, oder ich stehe für nichts!
Alle sanken auf ihre Sessel zurück und stießen schwere Seufzer aus. Jetzt erst konnte man einige Einzelheiten erfahren. Der Bote war dem Trupp der Aufständischen bei Tulettes begegnet und hatte sich beeilt, zurückzukehren.
Es sind mindestens dreitausend, meldete er. Sie marschieren in Bataillonen wie die Soldaten. Ich glaube, auch Gefangene bei ihnen gesehen zu haben.
Gefangen! schrien die entsetzten Spießbürger.
Ohne Zweifel, sagte der Marquis mit seiner dünnen Stimme; man hat mir erzählt, daß sie die Leute verhaften, die wegen ihrer konservativen Gesinnungen bekannt sind.
Bei dieser Nachricht erreichte die Bestürzung des gelben Salons ihren Höhepunkt. Einige Bürger erhoben sich und erreichten verstohlen die Türe; sie dachten wohl, es sei die höchste Zeit, ein sicheres Versteck zu suchen.
Die Kunde von den Verhaftungen, welche die Aufständischen bewerkstelligten, schien Felicité zu erschrecken. Sie zog den Marquis beiseite und fragte ihn:
Was machen denn diese Leute mit ihren Gefangenen?
Sie schleppen sie als Geiseln mit sich, erwiderte Herr von Carnavant.
Ah! rief die Alte mit eigentümlicher Betonung.
Sie beobachtete mit nachdenklicher Miene die seltsame Schreckensszene in ihrem Salon. Allmählich drückten sich die Spießbürger; bald blieben nur Vuillet und Roudier, denen die Nähe der Gefahr einigen Mut wiedergab. Auch Granoux blieb in seinem Winkel sitzen; seine Beine wollten ihn nicht tragen.
Meiner Treu, mir ist's lieber so, sagte der Major, als er die Flucht der übrigen Anhänger sah. Diese Feiglinge ärgerten mich schon zu sehr. Seit zwei Jahren reden sie davon, daß sie alle Republikaner der Gegend erschießen lassen wollen und würden heute nicht den Mut haben, eine Rakete um zwei Sous vor ihnen abzubrennen.