Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur Schopenhauer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer - Arthur Schopenhauer страница 26
§ 16
Nach dieser ganzen Betrachtung der Vernunft, als einer dem Menschen allein eigenen, besonderen Erkenntnißkraft, und der durch sie herbeigeführten, der menschlichen Natur eigenthümlichen Leistungen und Phänomene, bliebe mir jetzt noch übrig von der Vernunft zu reden, sofern sie die Handlungen der Menschen leitet, also in dieser Rücksicht praktisch genannt werden kann. Allein das hier zu Erwähnende hat größtentheils seine Stelle an einem andern Orte gefunden, nämlich im Anhang zu dieser Schrift, wo das Daseyn der von Kant so genannten praktischen Vernunft zu bestreiten war, welche er (freilich sehr bequem) als unmittelbare Quelle aller Tugend und als den Sitz eines absoluten (d.h. vom Himmel gefallenen) Soll darstellt. Die ausführliche und gründliche Widerlegung dieses Kantischen Princips der Moral habe ich später geliefert, in den »Grundproblemen der Ethik«. – Ich habe deshalb hier nur noch Weniges über den wirklichen Einfluß der Vernunft, im wahren Sinne dieses Worts, auf das Handeln zu sagen. Schon am Eingang unserer Betrachtung der Vernunft haben wir im Allgemeinen bemerkt, wie sehr das Thun und der Wandel des Menschen von dem des Thieres sich unterscheidet, und daß dieser Unterschied doch allein als Folge der Anwesenheit abstrakter Begriffe im Bewußtseyn anzusehn ist. Der Einfluß dieser auf unser ganzes Daseyn ist so durchgreifend und bedeutend, daß er uns zu den Thieren gewissermaaßen in das Verhältniß setzt, welches die sehenden Thiere zu den augenlosen (gewisse Larven, Würmer und Zoophyten) haben: letztere erkennen durch das Getast allein das ihnen im Raum unmittelbar Gegenwärtige, sie Berührende; die Sehenden dagegen einen weiten Kreis von Nahem und Fernem. Eben so nun beschränkt die Abwesenheit der Vernunft die Thiere auf die ihnen in der Zeit unmittelbar gegenwärtigen anschaulichen Vorstellungen, d.i. realen Objekte: wir hingegen, vermöge der Erkenntniß in abstracto, umfassen, neben der engen wirklichen Gegenwart, noch die ganze Vergangenheit und Zukunft, nebst dem weiten Reiche der Möglichkeit: wir übersehn das Leben frei nach allen Seiten, weit hinaus über die Gegenwart und Wirklichkeit. Was also im Raum und für die sinnliche Erkenntniß das Auge ist, das ist gewissermaaßen in der Zeit und für die innere Erkenntniß die Vernunft. Wie aber die Sichtbarkeit der Gegenstände ihren Werth und Bedeutung doch nur dadurch hat, daß sie die Fühlbarkeit derselben verkündigt, so liegt der ganze Werth der abstrakten Erkenntniß immer in ihrer Beziehung auf die anschauliche. Daher auch legt der natürliche Mensch immer viel mehr Werth auf das unmittelbar und anschaulich Erkannte, als auf die abstrakten Begriffe, das bloß Gedachte: er zieht die empirische Erkenntniß der logischen vor. Umgekehrt aber sind diejenigen gesinnt, welche mehr in Worten, als Thaten leben, mehr in Papier und Bücher, als in die wirkliche Welt gesehn haben, und die in ihrer größten Ausartung zu Pedanten und Buchstabenmenschen werden. Daraus allein ist es begreiflich, wie Leibnitz nebst Wolf und allen ihren Nachfolgern, so weit sich verirren konnten, nach dem Vorgange des Duns Skotus, die anschauliche Erkenntniß für eine nur verworrene abstrakte zu erklären! Zur Ehre Spinoza's muß ich erwähnen, daß sein richtigerer Sinn umgekehrt alle Gemeinbegriffe für entstanden aus der Verwirrung des anschaulich Erkannten erklärt hat. (Eth. II, prop. 40, Schol. 1.) – Aus jener verkehrten Gesinnung ist es auch entsprungen, daß man in der Mathematik die ihr eigenthümliche Evidenz verwarf, um allein die logische gelten zu lassen; daß man überhaupt jede nicht abstrakte Erkenntniß unter dem weiten Namen Gefühl begriff und gering schätzte; daß endlich die Kantische Ethik den reinen, unmittelbar bei Erkenntniß der Umstände ansprechenden und zum Rechtthun und Wohlthun leitenden guten Willen als bloßes Gefühl und Aufwallung für werth- und verdienstlos erklärte, und nur dem aus abstrakten Maximen hervorgegangenen Handeln moralischen Werth zuerkennen wollte.
Die allseitige Uebersicht des Lebens im Ganzen, welche der Mensch durch die Vernunft vor dem Thiere voraus hat, ist auch zu vergleichen mit einem geometrischen, farblosen, abstrakten, verkleinerten Grundriß seines Lebensweges. Er verhält sich damit zum Thiere, wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompaß und Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stelle auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffsvolk, das nur die Wellen und den Himmel sieht. Daher ist es betrachtungswerth, ja wunderbar, wie der Mensch, neben seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart Preis gegeben, muß streben, leiden, sterben, wie das Thier. Sein Leben in abstracto aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille Abspiegelung des ersten und der Welt worin er lebt, ist jener eben erwähnte verkleinerte Grundriß. Hier im Gebiet der ruhigen Ueberlegung erscheint ihm kalt, farblos und für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter. In diesem Zurückziehn in die Reflexion gleicht er einem Schauspieler, der seine Scene gespielt hat und bis er wieder auftreten muß, unter den Zuschauern seinen Platz nimmt, von wo aus er was immer auch vorgehn möge, und wäre es die Vorbereitung zu seinem Tode (im Stück), gelassen ansieht, darauf aber wieder hingeht und thut und leidet wie er muß. Aus diesem doppelten Leben geht jene von der thierischen Gedankenlosigkeit sich so sehr unterscheidende menschliche Gelassenheit hervor, mit welcher Einer, nach vorhergegangener Ueberlegung, gefaßtem Entschluß oder erkannter Nothwendigkeit, das für ihn Wichtigste, oft Schrecklichste kaltblütig über sich ergehn läßt, oder vollzieht: Selbstmord, Hinrichtung, Zweikampf, lebensgefährliche Wagstücke jeder Art und überhaupt Dinge, gegen welche seine ganze thierische Natur sich empört. Da sieht man dann, in welchem Maaße die Vernunft der thierischen Natur Herr wird, und ruft dem Starken zu: sidêreion ny toi êtor! (ferreum certe tibi cor!) Il. 24, 521. Hier, kann man wirklich sagen, äußert sich die Vernunft praktisch: also überall, wo das Thun von der Vernunft geleitet wird, wo die Motive abstrakte Begriffe sind, wo nicht anschauliche, einzelne Vorstellungen, noch der Eindruck des Augenblicks, welcher das Thier leitet, das Bestimmende ist, da zeigt sich praktische Vernunft. Daß aber dieses gänzlich verschieden und unabhängig ist vom ethischen Werthe des Handelns, daß vernünftig Handeln und tugendhaft Handeln zwei ganz verschiedene Dinge sind, daß Vernunft sich eben so wohl mit großer Bosheit, als mit großer Güte im Verein findet und der einen wie der andern durch ihren Beitritt erst große Wirksamkeit verleiht, daß sie zur methodischen, konsequenten Ausführung des edeln, wie des schlechten Vorsatzes, der klugen, wie der unverständigen Maxime, gleich bereit und dienstbar ist, welches eben ihre weibliche, empfangende und aufbewahrende, nicht selbst erzeugende Natur so mit sich bringt, – dieses Alles habe ich im Anhange ausführlich auseinandergesetzt, und durch Beispiele erläutert. Das dort Gesagte stände hier an seinem eigentlichen Platz, hat indessen, wegen der Polemik gegen Kants vorgebliche praktische Vernunft, dorthin verlegt werden müssen; wohin ich deshalb von hier wieder verweise.
Die vollkommenste Entwickelung der praktischen Vernunft, im wahren und ächten Sinne des Worts, der höchste Gipfel, zu dem der Mensch durch den bloßen Gebrauch seiner Vernunft gelangen kann, und auf welchem sein Unterschied vom Thiere sich am deutlichsten zeigt, ist als Ideal dargestellt im Stoischen Weisen. Denn die Stoische Ethik ist ursprünglich und wesentlich gar nicht Tugendlehre, sondern bloß Anweisung zum vernünftigen Leben, dessen Ziel und Zweck Glück durch Geistesruhe ist. Der tugendhafte Wandel findet sich dabei gleichsam nur per accidens, als Mittel, nicht als Zweck ein. Daher ist die Stoische Ethik, ihrem ganzen Wesen und Gesichtspunkt nach, grundverschieden von den unmittelbar auf Tugend dringenden ethischen Systemen, als da sind die Lehren der Veden, des Plato, des Christenthums und Kants. Der Zweck der Stoischen Ethik ist Glück: telos to eudaimonein (virtutes omnes finem habere beatitudinem) heißt es in der Darstellung der Stoa bei Stobäos. (Ecl., L. II, c. 7, p. 114, und ebenfalls p. 138.) Jedoch weist die Stoische Ethik nach, daß das Glück im innern Frieden und in der Ruhe des Geistes (aparaxia) allein sicher zu finden sei, und diese wieder allein durch Tugend zu erreichen: eben dieses nur bedeutet der Ausdruck, daß Tugend höchstes Gut sei. Wenn nun aber freilich allmälig der Zweck über das Mittel vergessen und die Tugend auf eine Weise empfohlen wird, die ein ganz