Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
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Kap. VIII. (§ 19.) Hiermit hast Du, mein Cato, sagte ich, einen Abriss der Lehre jener Philosophen, von denen ich gesprochen habe; und nun möchte ich wissen, weshalb Zeno von dieser alten Lehre abgefallen ist und was er nicht davon gebilligt hat. Haben sie denn nicht anerkannt, dass alle Naturen sich zu erhalten streben und dass jedes Wesen für sich selbst sorgt, um sich in seiner Art gesund und unverletzt zu erhalten? Haben sie denn nicht auch anerkannt, dass das Ziel aller Künste und Wissenschaften in dem, was die Natur am meisten aufsucht, bestehe und dass dies auch von der Kunst des ganzen Lebens gelte; und haben sie nicht auch anerkannt, dass wir aus Leib und Seele bestehen und dass diese und ihre Tugenden um ihrer selbst willen zu nehmen seien. Oder hat es Zeno missfallen, dass den Tugenden der Seele ein so grosser Vorzug gegeben worden ist? Oder haben ihm ihre Aussprüche über die Klugheit, die Erkenntniss der Dinge, über die Verbindungen des menschlichen Geschlechts, so wie über die Mässigkeit, Bescheidenheit, über die Seelengrösse und die Sittlichkeit überhaupt missfallen? Die Stoiker werden eingestehen müssen, dass all diese Lehren vortrefflich sind und dass Zeno deshalb keinen Grund gehabt, sich zu trennen. (§ 20.) Sie werden wahrscheinlich sagen, dass andere grosse Irrthümer bei den Alten bestehen, welche Zeno bei seiner Begierde nach Wahrheit nicht habe ertragen können. So sei es ganz verkehrt, unzulässig und thöricht gewesen, die gute Gesundheit, die Freiheit von allem Schmerz, die Unversehrtheit der äussern Sinne zu den Gütern zu rechnen, statt zu sagen, dass zwischen diesen Dingen und ihren Gegentheilen kein Unterschied stattfinde. Alles was jene Alten für Güter erklärt hätten, seien blos vorzuziehende Dinge, aber keine Güter. Ebenso sei es thöricht, ausgezeichnete körperliche Eigenschaften zu dem zu rechnen, was um seiner selbst willen zu suchen sei; man könne sie wohl hinnehmen, aber nicht aufsuchen, und ebenso sei gegen das Leben, was nur in der einen Tugend bestehe, das Leben, was auch an den übrigen naturgemässen Dingen Ueberfluss habe, nicht zu suchen, sondern nur anzunehmen. Denn die Tugend allein bewirke schon ein so glückliches Leben, dass es nicht glücklicher werden könne. Dennoch solle aber den Weisen, obgleich sie die Glücklichsten sind, noch Manches fehlen, und deshalb suchten sie sich gegen Schmerzen, Krankheiten und Hinfälligkeit zu schützen.
Kap. IX. (§ 21.) O! welche grosse Geisteskraft und welcher gerechte Grund zur Aufstellung einer neuen Lehre! Aber weiter! Es folgt nun, was Du so geschickt zusammengefasst hast, dass alle Unwissenheit, Ungerechtigkeit und ähnliche Laster einander gleichstünden, und dass Die, welche durch ihre Natur und durch Lehre schon der Tugend sich sehr genähert hätten, dennoch vor deren völliger Gewinnung höchst elend seien und dass zwischen deren Leben und dem der gottlosesten Menschen kein Unterschied bestehe; so dass Plato, jener grosse Mann, wenn er nicht weise gewesen wäre, weder besser noch glücklicher als der schlechteste Mensch gelebt haben würde. Dies ist also des Zeno Berichtigung und Verbesserung der alten Philosophie. Aber sie kann weder in der Stadt, noch bei den Gerichten, noch in der Rathsversammlung zugelassen werden; denn wie könnte man ein Gerede ertragen, wo der Sprecher sich öffentlich für den Lehrer eines ernsten und weisen Lebens erklärt, aber dabei nur die Worte ändert, während er denkt und empfindet wie alle Andern, und wo er den Dingen dieselbe Natur zuspricht und nur ihnen andere Namen giebt, an den Ansichten selbst nichts ändert, aber die Worte verändert. (§ 22.) Soll hiernach der Vertheidiger eines Angeklagten in seiner Schlussrede behaupten, die Verbannung und die Einziehung aller Güter sei kein Uebel, und man könne dergleichen wohl ablehnen, aber dürfe dergleichen nicht fliehen? Soll er behaupten, der Richter dürfe nicht mitleidig sein? Und soll man etwa, wenn Hannibal vor die Thore gerückt wäre und seinen Speer gegen die Mauern geworfen hätte; vor dem Volke erklären, die Gefangenschaft, der Verkauf in die Sklaverei, der Tod, der Untergang des Vaterlandes sei kein Uebel? Hätte der Senat, als er dem Scipio Africanus den Triumph zuerkannte, dessen Tugend und Glück als Grund anführen dürfen, wenn die Tugend und die Tapferkeit in Wahrheit nur von dem Weisen ausgesagt werden kann? Was ist dies also für eine Philosophie, die auf dem Markte wie alle Andern spricht, aber in ihren Büchern ihre eigne Sprache redet? Zumal mit diesen neuen Worten doch nur die alten Dinge bezeichnet werden und es trotz der Neuerung doch bei dem Alten bleibt. (§ 23.) Was will es sagen, ob Du den Reichthum, die Macht, die Gesundheit Güter oder blos Vorgezogenes nennest, da Der, welcher sie Güter nennt, sie doch nicht höher stellt, als Der, welcher sie Vorgezogenes nennet? Deshalb hat Panätius, jener unabhängige und ernste Mann, der würdige Freund und Genosse des Scipio und Lälius, in seiner an Q. Tubero gerichteten Schrift über Ertragung des Schmerzes nirgends behauptet, dass der Schmerz kein Uebel sei, obgleich dies, wenn er es hätte beweisen können, die Hauptsache gewesen sein würde; sondern er hat nur die Natur des Schmerzes und seine Beschaffenheit erörtert und gezeigt, wie viel Fremdes darin enthalten sei, und die Mittel, um den Schmerz zu ertragen, dargelegt. Da er ein Stoiker war, so scheint mir durch dessen Ausspruch die Rohheit ihrer Ausdrücke verurtheilt zu sein.
Kap. X. (§ 24.) Um indess Deinen Anführungen, mein Cato, näher zu treten und schärfer auf die Sache einzugehen, so wollen wir das von Dir eben Gesagte mit dem vergleichen, was ich über das Deinige stelle. Das, was Ihr mit den Alten gemein habt, wollen wir als zugestanden annehmen und, wenn es Dir recht ist, nur die Punkte erörtern, wo Ihr abweicht. – Ich bin ganz damit einverstanden, sagte er, dass diese Punkte schärfer und eindringender verhandelt werden; denn das, was Du bisher gesagt, ist zwar gemeinverständlich; ich möchte aber von Dir auch Scharfsinnigeres hören. – Du von mir? sagte ich; indess will ich es versuchen, und wenn mir nicht viel davon beifallen sollte, so werde ich auch das Gemeinverständliche nicht von mir weisen. (§ 25.) Ich stelle zunächst den Satz auf, dass ein Jeder für sich selbst sorgt und von der Natur vor Allem den Trieb empfangen hat, sich selbst zu erhalten. Bis hier sind wir einverstanden; es folgt nun, dass wir untersuchen, wer wir selbst sind, um uns so, wie wir sein sollen, zu erhalten. Wir sind nun Menschen und bestehen aus Leib und Seele, welche ihre besondere Beschaffenheit haben, und wir müssen, wie der erste natürliche Trieb verlangt, beides lieben und aus ihnen das höchste Gut und Uebel ableiten. Sind diese Hauptsätze richtig, so muss das höchste Gut so bestimmt werden, dass es in der Erlangung der meisten und grössten naturgemässen Dinge besteht. Dieses Ziel haben die Alten festgehalten; ich habe es mit mehr Worten ausgedrückt; Jene haben es kurz das naturgemässe Leben genannt und darin das höchste Gut gesetzt. –
Kap. XI. Aber nun zeige mir, wie die Stoiker oder vielmehr Du, (denn wer könnte es wohl besser als Du?) obgleich sie von diesen selbigen Grundlagen ausgegangen sind, dahin gelangen, dass das sittliche Leben, d.h. ein tugendhaftes oder naturgemässes Leben, das höchste Gut sein soll, und wie und wo Ihr plötzlich den Leib und Alles, was zwar naturgemäss ist, aber nicht in unsrer Macht steht, ja sogar die Pflichten habt fallen lassen. Ich frage also, wie ist es gekommen, dass so Vieles von der Natur Empfohlenes plötzlich von der Weisheit im Stich gelassen worden ist? (§ 27.) Selbst wenn man nicht nach dem höchsten Gut für den Menschen suchte, sondern für ein Wesen, was nur ein Geist ohne Körper wäre (es mag diese Annahme erlaubt sein, um die Wahrheit um so leichter zu entdecken), so würde selbst für diesen Geist Euer Ziel nicht gelten. Er würde nach Gesundheit und Schmerzlosigkeit verlangen und die Erhaltung seiner und die Bewahrung alles Dessen begehren und ein naturgemässes Leben