Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
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Kap. XII. Nur unter der einen Bedingung könnte man das höchste Gut in die Tugend allein setzen, wenn nämlich ein Wesen nur ein Geist ohne Körper wäre und zwar so, dass dieser Geist nichts Naturgemässes an sich hätte, also z.B. keine Gesundheit. (§ 29.) Ein solches Wesen kann man sich aber nicht ein mal näher vorstellen, ohne in Widersprüche zu gerathen. – Wenn Chrysipp sagt, dass Manches verdunkelt und nicht bemerkt werde, wenn es sehr klein sei, so trete ich dem bei, namentlich wenn Epikur in Bezug auf die Lust sagt, dass sehr schwache Lustgefühle oft verdeckt und verhüllt werden; aber in diese Klasse gehören nicht die bedeutenderen Annehmlichkeiten des Körpers, die oft lange Zeit anhalten und deren es eine grosse Anzahl giebt. Also kann nur bei solchen Lustgefühlen, die wegen ihrer Schwäche nicht hervortreten, es häufiger vorkommen, dass es uns geständlich gleich ist, ob sie da sind oder nicht; so ist in Deinen Beispielen es gleichgültig, ob noch eine Laterne zu dem Sonnenschein hinzukommt, oder ein Pfennig zu den Schätzen des Crösus. (§ 30.) Wo aber eine solche Abschwächung nicht eintritt, da kann doch das betreffende Gefühl schwach sein, ohne dass es uns gleichgültig wird. So ist es für Den, der zehn Jahre angenehm gelobt hat, erheblich, ob dieses Leben noch einen Monat länger dauert; es ist dieser Zusatz des Angenehmen von Gewicht, also ein Gut; aber deshalb wird, wenn dieser Zusatz nicht eintritt, das glückliche Leben nicht sofort vernichtet. Damit haben nun die Güter des Körpers grosse Aehnlichkeit; bei ihnen kann eine Vermehrung stattfinden, um welche man sich müht. Deshalb möchte ich es beinah für einen Scherz halten, wenn die Stoiker sagen, dass, im Fall zu dem tugendhaft geführten Leben noch ein Salbenfläschchen oder eine Badestriegel hinzukomme, der Weise ein Leben mit diesem Zusatz wohl lieber nehmen werde, allein glücklicher werde er dadurch nicht. (§ 31.) Passt denn dieses Gleichniss? Verdient es nicht mehr Gelächter als Widerlegung? Mag ein Salbenfläschchen sein oder nicht, so wird man mit Recht ausgelacht, wenn man darum sich müht! Aber wenn Jemand die Schwere der Glieder oder die Pein von Schmerzen damit vertreibt, so verdient er grossen Dank, und wenn ein Weiser von dem Tyrannen gezwungen wird, zur Folter oder an die Pferdemaschine zu gehen, so hat er nicht die Miene, als wenn er ein Salbenfläschchen verloren hätte, sondern die eines Mannes, der einem grossen und schweren Kampf entgegen geht, den er mit seinem Hauptgegner, dem Schmerz, auszufechten hat. Er hält sich dann alle Gründe für ein tapferes und geduldiges Ausharren vor, mit deren Hülfe er diesen schweren und, wie gesagt, grossen Kampf, beginnen soll. Auch handelt es sich nicht darum, ob etwas seiner Kleinheit wegen zurücktritt oder verschwindet, sondern um Dinge, die mitgezählt werden müssen und die Summe voll machen. In einem schwelgerischen Leben verschwindet die einzelne Lust gegen die vielen andern; aber wenn jene auch nur klein ist, so bildet sie doch einen Theil des Lebens, dessen Wesen in die Lust gesetzt worden ist. Auch das einzelne Geldstück verschwindet in den Schätzen des Crösus, aber es ist doch ein Theil davon. Deshalb mögen immer die einzelnen Dinge, die man das Naturgemässe nennt, in einem glücklichen Leben nicht hervortreten, so bleiben sie doch immer Theile des glücklichen Lebens.
Kap. XIII. (§ 32.) Wenn also, wie wir eingestehen müssen, ein natürliches Begehren nach den naturgemässen Dingen besteht, so muss man all diese Dinge gleichsam in eine Summe zusammenrechnen. Erst wenn dies geschehen ist, mag man gemächlich über die Grösse der Dinge und ihre Vortrefflichkeit verhandeln und ermitteln, wie viel ein jedes zum glücklichen Leben beitragt, und mag dies selbst auf jene Verdunkelungen ausdehnen, welche einzelne Dinge wegen ihrer Kleinheit erleiden, so dass sie kaum oder gar nicht bemerkt werden. Und wie steht es mit dem, worüber keine Meinungsverschiedenheit herrscht? Denn Niemand wird bestreiten, dass bei allen Naturen das, worauf Alles bezogen wird, ein Aehnliches ist, und zwar das Höchste von allem Begehrenswerthen. Denn jede Natur liebt sich selbst; keine lässt sich, oder einen Theil seiner, oder den Zustand und die Kraft, oder die Bewegung und den Zustand eines seiner Theile oder der naturgemässen Dinge im Stich. Welche Natur hätte wohl auf ihre Grundeinrichtung keine Rücksicht genommen? Und giebt es eine, die dieses ihr Wesen nicht vom Anfang bis zum Ende bewahrt? (§ 33.) Wie sollte daher die menschliche Natur die einzige sein, die sich selbst, d.h. den Menschen, verliesse, seines Körpers vergässe und das höchste Gut nicht in den ganzen Menschen, sondern nur in einen Theil desselben verlegte? Wie wird man es da erreichen, dass für alle Naturen das höchste Gut, um das es sich handelt, das Gleiche sei, was doch die Stoiker selbst wollen und bei Allen feststeht? Es wäre dies nur dann der Fall, wenn auch bei den übrigen Naturen nur das Vorzüglichste in jeder auch das Höchste für jede wäre, wie die Stoiker das höchste Gut bestimmt haben. (§ 34.) Was zögerst Du somit, die Gesetze der Natur zu ändern? Wozu sagst Du, jedes Geschöpf sei von seiner Geburt ab bestrebt, sich zu lieben und mit seiner Erhaltung beschäftiget? weshalb sagst Du nicht vielmehr, jedes Geschöpf sei mit dem, was das Beste in ihm ist, beschäftiget und sorge für dessen Erhaltung allein, und ebenso thäten auch die andern Geschöpfe nichts, als das zu erhalten, was in jedem das Beste ist? Wie kann es aber ein Bestes geben, wo kein Gutes weiter besteht? Wenn aber auch noch Anderes zu erstreben ist, weshalb wird das höchste Ziel nicht als das bestimmt, was alle diese Dinge befasst, oder die meisten und besten? So wie Phidias selbstständig eine Bildsäule beginnen und vollenden kann, aber auch eine von einem Andern begonnene Bildsäule übernehmen und vollenden kann, so verhält es sich auch mit der Weisheit; denn sie hat nicht selbst den Menschen gemacht, sondern hat den angefangenen von der Natur übernommen. Auf diese blickend hat sie das von dieser begonnene Werk, gleich einer Bildsäule, zu vollenden. (§ 35.) Wie hat nun die Natur den Menschen begonnen? Und was ist die Aufgabe und die Arbeit der Weisheit? Was hat sie zu beenden und zu vollenden? Wenn nur eine gewisse Bewegung des Geistes zu vollenden ist, d.h. die Vernunft, so muss für Den, der dies annimmt, das tugendhafte Handeln als das Höchste gelten; denn die Tugend ist die Vollendung der Vernunft. Wenn aber die Vollendung nur auf den Körper zu richten ist, so ist das Höchste die Gesundheit, die Schmerzlosigkeit, die Schönheit u.s.w. Jetzt handelt es sich aber um das höchste Gut des Menschen.
Kap. XIV. (§ 36.) Weshalb zögern wir also, in seiner ganzen Natur Das zu finden, was als Ziel gelten soll? Denn Alle sind einverstanden, dass die Aufgabe und das Amt der Weisheit in der Pflege des Menschen besteht; aber Einige (damit Du nicht denkst, ich spreche blos gegen die Stoiker) stellen Ansichten auf, wonach das höchste Gut in Etwas ausserhalb der Macht des Menschen verlegt wird, als wenn es sich um ein Ding ohne Seele handelte; Andere richten, als wenn der Mensch keinen Körper hätte, ihr Augenmerk nur auf die Seele, obgleich doch die Seele selbst kein solches leeres Etwas ist (ich weiss nicht, was, denn es ist mir unverständlich), sondern eine Art Körper ist, weshalb auch die Seele mit der Tugend allein nicht zufrieden ist, sondern noch die Freiheit von Schmerzen verlangt. Die Vertreter dieser beiden Ansichten gleichen Einem, der die linke Seite des Körpers vernachlässigt und nur die rechte beschützt; oder sie lassen sich, wie Herillus, das Erkenntnissvermögen der Seele angelegen sein, vernachlässigen aber ihr Handeln. Sie lassen Alle Vieles bei Seite und suchen nur Eines hervor, was sie eifrig verfolgen, als wenn ihre Lehre beschnitten worden wäre. Vielmehr kann nur die Ansicht Derer für vollständig und vollendet gelten, welche bei Ermittelung des höchsten Gutes für den Menschen keinen Theil, weder in seiner Seele noch in seinem Körper ohne Fürsorge gelassen haben. (§ 37.) Ihr, mein Cato, habt, weil die Tugend, wie Alle einverstanden sind, die oberste und ausgezeichnetste Stelle bei dem Menschen einnimmt, und weil die Weisen für vollendet und vollkommen gelten, die Schärfe unsres Geistes durch den Glanz der Tugend verdunkelt. Bei jedem Geschöpf giebt es ein Höchstes und Bestes, wie bei den Pferden und Hunden; allein trotzdem wollen sie auch vom Schmerze frei und gesund sein. Ebenso wird auch bei dem Menschen seine Vollkommenheit in dem, was das Beste an ihm ist, nämlich in der Tugend, am meisten gelobt. Daher scheint Ihr mir den Weg der Natur und ihre Entwickelung nicht gehörig zu beachten. Wenn sie bei dem Getreide den Halm, nachdem