Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz страница 11
Zu Hause benahm ich mich weniger würdig und ärgerte besonders meine Mutter. Oder sie mich. Manchmal nach einem Zank mit ihr murmelte ich drohende Worte vor mich hin, riß dabei im Kinderzimmer meine Kommodenschublade geräuschvoll immer wieder auf und zu und legte meine kleinen Habseligkeiten heraus, als gedächte ich, das Haus für immer zu verlassen. Packte auch Dinge zusammen, die eigentlich nicht ganz mein Besitz waren, wie beispielsweise Strümpfe. Und dann ärgerte ich mich, wenn niemand hinzukam und mich beschwichtigte. In einem dieser Fälle trat aber mein Vater zu mir und sagte kopfschüttelnd: »Junge, was hast du nur mit deiner Mutter?«
»Ich hasse sie!« rief ich theatralisch.
Mutter hatte mir auf meine Bitte hin ein altertümliches, herzförmiges Flakon aus Goldblech geschenkt. Das schenkte ich weiter an Maggy Porter, ein englisches Mädchen, das ich in X-dorf bei zwei Tanzstundenfreundinnen meiner Schwester kennenlernte. Ich hatte mich mit deutscher und sächsischer Bewunderung sofort in die Miß verschossen. Einige Tage später gaben meine Eltern einen Hausball für die Teilnehmer der Tanzstunde. Auch die zwei X-dorfer Freundinnen von Ottilie und auch Maggy Porter waren eingeladen. Am Tag danach vermißte meine Schwester ein hübsches, wenn auch nicht wertvolles Armband. Der Verdacht fiel auf mich. Mutter erinnerte sich an das Herzflakon und fragte mich mittags, ob ich das Armband etwa auch meiner Maggy geschenkt hätte. Ich schwieg beleidigt, legte nach dem Essen einen Zettel auf meinen Spieltisch mit der mysteriösen Aufschrift »Ich soll gestohlen haben« und ging davon. Bummelte, mich in ganz törichte Gedanken einbohrend, stundenlang ziellos durch die Straßen. Spät abends griff mich meine Mutter auf. Sie hatte den Zettel gefunden, in der Besorgnis, ich könnte mir ein Leid antun, mich bang gesucht und brachte mich nun schluchzend heim.
An sich kümmerte ich mich wenig um Ottiliens Liebeszauber und Tanzschwestern und Tanzbrüder. Von den jungen Herren imponierte mir einer, namens Swiderski, weil er ein bekannter Schachspieler war, der an öffentlichen Turnieren teilnahm. Und weil er einmal in der Schwimmanstalt mit mir von dem ganz hohen Gerüst ins Wasser springen wollte. Er sprang auch. Aber ich tat aus Feigheit nicht mit. Ferner war da Hermann Mitter, auch ein Verehrer Ottiliens, nicht so verwegen, aber immer lieb und gleichbleibend treu.
Wurde ich auch hin und wieder zu den Bällen dieser Tanzstunde zugezogen, so bestand meine Hauptbeziehung doch eigentlich darin, daß ich gelegentlich Verse für die Veranstaltungen schrieb und die Verse bebilderte.
Ein Fahrrad erhielt ich. Wunderbar! Brennabor! Dreihundert Mark! Bald waren Roß und Reiter verwachsen. Ich stieg aufs Rad, wenn ich einen Brief in den Postkasten werfen sollte, obwohl der Kasten neben unserem Haustor befestigt war. Ich radelte zur Schule. Ich machte weite Ausflüge im Rasetempo. Ich konnte im Fahren die kühngeschwungene Lenkstange loslassen oder mich auf den Sattel stellen. Ich konnte mit einem verwegenen Schwung nach vorn abspringen. Ich stürzte hundertmal, oft auf groteske, bedrohliche Weise. Stets ohne inneren Schaden zu nehmen. Ich fiel in Gewässer, überfuhr Hunde, prallte an Spaziergänger, konnte mein Fahrrad allein zerlegen und wieder zusammensetzen oder die Reifen flicken. Ich trainierte sogar auf der steilkurvigen Rennbahn. Ich war der Schrecken der Droschkenkutscher und Fußgänger. Ich klingelte wie ein Besessener. Heute würde ich mein radfahrendes Ich von damals, wenn es mir als fremd begegnete, anhalten und durchbleuen. Mein Traum war derzeit, ein Rennfahrer zu werden wie Robl oder Arend. Ich hatte mich einer Bande Rowdys zugesellt, die allabendlich im Rosental Wettrennen improvisierten und nur vom Radfahrsport und nur in Fachausdrücken redeten. Der angesehenste von diesen Halbstarken war ein Mechanikergehilfe, der schon zweimal an richtigen Rennen auf der Rennbahn in Merseburg teilgenommen hatte. Ich selber schlug einmal einen engeren Rekord, indem ich von Leipzig nach Halle – ich glaube in 75 Minuten – sauste. Leider war niemand Zeuge, und die, denen ich es erzählte, glaubten mir nicht oder interessierten sich nicht dafür.
Auch die Schule hatte kein Verständnis für meinen Sport oder doch nicht so viel, daß man mir dafür im Geistigen etwas nachsah. In der Turnstunde wurden zwar Ballspiele getrieben und Wettkämpfe veranstaltet. In der letzten Klasse erhielten wir sogar Florettunterricht. Aber das wurde alles so trottmäßig betrieben und war so langweilig. Daß ich, um diese Unterrichtsstunde zu beleben, eines Tages einen geborgten Photoapparat mitbrachte und sechzig Minuten lang damit manipulierte, um die malerisch um den Lehrer gruppierte Klasse zweimal zu knipsen. Dabei verstand ich gar nichts von der Kunst des Photographierens und hatte auch gar keine Platten mitbekommen. Später log ich, die Platten wären beim Entwickeln entzweigegangen. – Und die blanken Floretts, die wir mit soviel Stolz empfangen hatten, waren rostig geworden. Wir spießten Äpfel darauf und trieben sonsterlei Unfug damit.
Der dicke Oberlehrer Bartels mochte mich etwas leiden. Er war so auf treudeutsch, »Gut Holz« und »Wandern mit Gesang« eingestellt. Wir schenkten ihm zu einem Jubiläum eine Fahne, deren Stock aus einem vom Schulausflug heimgebrachten Eichenast gedrechselt war, und ich schrieb dazu ein Bartels verherrlichendes, patriotisches Gedicht. Seitdem hatte ich bei ihm einen Stein im Brett. Auch er war im Grunde nur ein egoistischer und seiner Bequemlichkeit lebender Pauker.
Ich habe dort und überhaupt nur einen Lehrer gehabt, der mir imponierte und an den ich mit aufrichtiger Hochachtung zurückdenke. Dr. Dörry, ein damals jüngerer Herr. Er unterrichtete in geometrischem Zeichnen. Ich habe stets Angst vor den Lehrern gehabt. Meine Frechheiten wagte ich nur in Abwesenheit der Lehrer. Dr. Dörry war zudem als ein Mann respektiert, der nicht mit sich spaßen ließ. Und dennoch – ich weiß noch heute nicht, was in mich gefahren war – hob ich eines Tages in seiner Stunde die Hand, und als er fragte: »Was willst du?« gab ich die deutliche Antwort: »Darf ich fünf Minuten lang in den Puff gehen?«
Die ganze Klasse erstarrte. Dr. Dörry blickte mich fest an, mir ist, als hätte er ganz flüchtig gelächelt. Dann zog er seine Uhr und sagte: »In fünf Minuten bist du zurück.« Ich ging hinaus.
Alle wußten, daß es wirklich ein Bordell in der Nähe gab. Ich war noch nie in einem Bordell gewesen. Und ich dachte auch nun nicht daran, dorthin zu gehen. Ich wartete unten mit Herzklopfen vor einer Uhr. Bis die fünf Minuten um waren. Dann meldete ich mich in der Klasse zurück, ging an meinen Platz. Dr. Dörry sagte nichts. Der Vorfall hatte keinerlei Folgen. Nur daß ich acht Tage später, übermütig gemacht, leider nochmals die Hand hob und dann fragte: »Herr Doktor, erlauben Sie, daß ich ein Stück Quarkkuchen essen gehe?«
Er sah mich wieder kurz und scharf an, aber diesmal ernster und bestimmt ohne Lächeln. Dann sagte er: »Gut. In fünf Minuten bist du zurück.«
Ich eilte hinaus, hatte ein noch schlimmeres Gewissen als bei dem ersten Fall, kaufte ein Stück Quarkkuchen, schlang es lustlos würgend hinunter und war pünktlich wieder auf meinem Platz. Auch diesmal erfolgte keine Rüge, keine Anzeige. Aber seitdem paßte ich auf. War bald der Beste, mindestens der begreifendste und begeistertste Schüler in Geometrie und liebte seitdem diesen Lehrer unsagbar. Nie wieder erlaubte ich mir ihm gegenüber eine Freiheit. Nur manchmal, wenn er mit langen Sätzen, drei Stufen auf einmal nehmend, die Schule verließ, bemühte ich mich, an seiner Seite ihm Schritt zu halten. O daß ich dem Dr. Dörry später nur einmal wieder begegnet wäre! Um ihm zu danken. Alle anderen Lehrer, die ich hatte, könnte ich heute kalt und unversöhnlich verprügeln. Meine ich.
Ich blieb in den drei Jahren bei Toller nicht sitzen, sondern schlüpfte immer noch eben so durch. Nach dem letzten Jahr, da man uns mit