Das entfesselte Wien. Hugo Bettauer
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Paul dachte an seine Armeepistole, die irgendwo im Schreibtisch lag. Letzter Ausweg, wenn es anders nicht ging.
4. Kapitel
Die pechserie
Glück und Unglück pflegen serienweise aufzutreten. Ein Schnupfen, ein verstauchter Fuß, der Verlust einer Zigarettendose kann den Beginn von Schicksalsschlägen bedeuten, die unaufhaltsam auf einen niederprasseln. Ein unerwarteter Gewinn, die Eroberung einer Frau, eine gewonnene Wette — und man ist mitten in einer Glücksserie. Die wenigsten Menschen beachten das genug. Täten sie es, so würden sie rechtzeitig weiterem Unglück vorbeugen oder die günstige Konjunktur bis zur äußersten Möglichkeit ausnützen.
Für Paul Mautner hatte die große Pechserie begonnen. Dem Verlust seines großen Vermögens folgte ein Ärgernis nach dem andern. Er besaß einen fünfhundertjährigen Rosenschiras-Teppich von fast unschätzbarem Werte.
Sein Diener ließ den brennenden Spirituskocher fallen, so daß der Teppich unheilbare Brandstellen bekam. Für das schon verkaufte Automobil mußte Mautner die enorme Automobilsteuer nachzahlen und auch die Steuern für das vorangegangene Jahr wurden fällig. Von allen Seiten traten kleine und größere Verpflichtungen an ihn heran und schließlich verschwand sein Diener spurlos, nachdem er allerlei Kleider und Kostbarkeiten mitgenommen hatte.
An einem warmen Frühlingstage trug Mautner sein ganzes Vermögen in der Brieftasche. Und dieses Vermögen bestand aus zwanzig Papiermillionen. Für einen, der seinen Erwerb hat, schließlich eine ganz hübsche Summe, für ihn, der bei noch immer großem Lebensaufwand nichts verdiente, eine lächerliche Kleinigkeit.
Mautner stand am Fenster, sah auf den stillen vornehmen Brahmsplatz hinaus, sah die schönen Automobile, die zu zweit und dritt vor jedem Haus warteten und das Hoffnungslose seiner Lage kam ihm qualvoll zum Bewußtsein. „Auswandern, fort von Wien!“ murmelte er in sich hinein. Aber wohin? Alle Grenzen gesperrt, zudem überall Haß und Widerstand gegen fremde Brotesser. Und dann: Sollte er mit seinen sechsunddreißig Jahren als kleiner Handlungskommis anfangen, in grauenhaften Speisehäusern ein Stück Fleisch herunterschlingen, ein Bettlerdasein führen, nur um zu leben? Nein, lieber rasch Schluß machen, lieber ein Schuß in die Schläfe, bevor die Pechserie weiterlief.
Das Telephon auf dem Schreibtisch hinter ihm gab seinen schnarrenden Laut. Es war Frau Sonja Gordon, die ihn anrief.
„Heute werden die Trial Stakes in der Freudenau gelaufen. Ich habe in meiner Loge noch Platz, wollen Sie mitkommen? Gut, ich hole Sie mit dem Auto ab.“
Mautner, der nur mehr eine Bedienerin hielt, die vormittags auf ein paar Stunden kam, machte Toilette, stellte mit sauerem Lächeln fest, daß er nicht mehr ganz „up to date“ war, seine Halbschuhe der Farbe nach nicht mehr der letzten Mode entsprachen und auch der Sakkoanzug für aufmerksame Beobachter einiges zu wünschen übrig ließ.
„Wie lange noch und die Ärmel werden an den Ellbogen glänzen, die Hutbänder Schweißflecken haben. Demnächst werde ich mir einige paar Schuhe doppeln lassen müssen, womit meine Karriere endgültig beendet ist.“
Aber er wollte sich die gute Laune, die der Anruf der schönen Frau Gordon erzeugt hatte, nicht verderben lassen, dachte mit Behagen an die Stunden, die er nun mit diesem raffinierten Luxusweib verbringen würde. Mit ihr und vielleicht auch mit der kleinen zarten Jutta. Ein warmes Gefühl überkam ihn, wie er an dieses zarte, liebliche Geschöpf dachte, das immer errötete, wenn er es ansprach und seine keimende Liebe kaum noch verbergen konnte.
Das Auto kam und Mautner stieg zu den Damen. Frau Sonja hatte richtig die Tochter mitgenommen und außerdem die unvermeidliche Komtesse Magda Huttwitz, die heute, wenn die Frühlingssonne in ihren Haaren spielte, recht attraktiv aussah.
Trotz des Börsenkrachs war ganz Wien in der Freudenau, das alte Wien und das neue, die ehemalige Gentry von Österreich und Ungarn mit ihren Damen in betonter Schlichtheit und die Emporgekommenen, die noch immer Milliarden besaßen, den neuen, lärmenden Ton angaben, und deren Frauen und Töchter den Schmuck trugen, den die Aristokratinnen stückweise hatten verkaufen müssen.
Schöne Frauen in Hülle und Fülle, rassig und schlank die jungen Weiber aus den uralten Familien, schön auch die Frauen und Töchter der Parvenüs, die mit wienerisch-orientalischer Geschmeidigkeit rasch die Manieren der vornehmen Welt angenommen hatten und kraft ihres Reichtums ihr rotes Blut mit dem blauen der enttitelten, depossedierten Hocharistokraten zu mischen begannen.
Die Huttwitz, die sich in das Unvermeidliche zu schicken schien, und, statt ihre Eifersucht zu zeigen, Paul zu protegieren begann, blieb in der Loge, während die beiden anderen Damen mit ihm im Menschengewühl über den Rasen schlenderten.
Alle paar Schritte mußten sie stehen bleiben, um mit Bekannten Begrüßungen auszutauschen, und aufgeräumt begann Paul boshafte Bemerkungen zu machen, den Schleier von Familiengeheimnissen zu lüften, Histörchen und Klatschgeschichten äufzutischen.
Er wies auf eine Loge.
„Sehen Sie, dieser robuste, schwarzbärtige Mann da ist der bekannte Kontermineur David Tulpenstengel. Im Jahre 1914 kam er mit Frau und zwei kleinen Töchtern aus Brody, lief unaufhörlich durch die Kaffeehäuser am Schottenring und in der Leopoldstadt und sagte sein Sprüchlein auf: ‚Die Kosaken haben meine Frau und Töchter geschändet, haben Sie Erbarmen mit einem armen Juden.‘ Man hatte Erbarmen, die Papierzettel flogen in seinen speckigen Hut und Tulpenstengel begann in Dollar zu spekulieren. Nach und nach wurde er einer der erfolgreichsten Börsenspieler. Immer wenn eine Hausse längere Zeit angedauert hatte, ging er in die Kontermine. Er soll auch jetzt heftig verdient haben und wird auf Hunderte von Milliarden geschätzt.“
„Wer sind die zwei schönen jungen Frauen, die neben ihm sitzen!?“
„Das sind die angeblich von den Kosaken geschändeten Töchter. Jetzt revanchieren sie sich, indem sie sich mehr oder weniger heruntergekommene Kavaliere kaufen. Beide haben gut deutschnationale Christen geheiratet, sich bald scheiden lassen und genießen jetzt ihr Leben. In ihrer Villa in Hietzing soll es toll hergehen. Wenn Gäste kommen, müssen sich Papa Tulpenstengel und seine Gattin in ein Mansardenzimmer zurückziehen. Man erzählt aber, daß Herr Tulpenstengel indiskret ist und durch die Schlüssellöcher zuschaut, wie sich seine Töchter unterhalten.“
„Ah, die schöne Frau Lilian mit einem ihrer Verehrer! Und hinter ihnen der Gatte. Ehemaliger christlichsozialer Gemeinderat, Alkoholiker und Berufsspieler. Er hat die üble Gewohnheit, plötzlich aufzutauchen, wenn seine scharmante Frau Besuch hat. Was aber nicht etwa mit einem Hinauswurf des Besuchers oder mit einem Duell endet, sondern damit, daß der Wackere den Verehrer seiner Frau tüchtig anpumpt.
Die zwei Schwestern Ruth und Eva Lorisch. Prachtvolle Gestalten, sehr lustig und klug. Man kann sie nur beide gemeinsam zum Souper und nachherigem Amüsement einladen. Sie sind wie Handschuhe: Nur paarweise zu kaufen.“
Paul fühlte den fragenden, erschreckten Blick Juttas auf sich gerichtet. Entschuldigte sich verlegen:
„Das sind keine Geschichten für so junge Ohren. Verzeihen Sie mir, daß ich mich gehen ließ.“
Frau