Das entfesselte Wien. Hugo Bettauer
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Die zukünftigen Derbycracks gingen zum Start und zehntausend Feldstecher richteten sich dorthin, wo bald die weiße Fahne sinken und der Lauf beginnen würde. Paul brachte die Damen in ihre Loge, entschuldigte sich und lief einem Trainer nach, den er soeben erblickt hatte. Im Vorjahr hatte dieser Trainer oft von ihm Börsentips bekommen und sich mit Angaben über die Gewinstchancen der Pferde revanchiert.
Mautner klopfte ihn auf die Schulter.
„Nun, Davis, wer wird die Trial Stakes machen? Der hohe Favorit ‚Hitler‘ oder ‚Marschall‘?“
Davis verrunzeltes Gesicht blieb unbeweglich.
„Weder der noch der, glaube ich, habe Meinung für ‚Nationalrat‘. Kann mich aber irren.“
Mautner raste zum Buchmacherring und placierte alles, was er in der Brieftasche hatte, die ganzen zwanzig Millionen auf „Nationalrat“, der ihm acht gegen eins gelegt wurde. Die Informationen des Trainers Davis hatten sich immer bewährt; wenn „Nationalrat“ gewann, so besaß er statt der zwanzig Millionen deren hundertachtzig. Und konnte ausharren, warten, die Pechserie überstehen.
Ruhig, wie aus Erz gegossen, stand Paul in der Loge hinter den Damen. Die Pferde kamen nicht vom Start, immer wieder verhinderte ein nervöser Gaul den Ablauf und die Spannung stieg ins Ungemessene. Frau Sonja drehte sich um und entnahm ihrem Täschchen einige Banknoten.
„Mautner, wollen Sie so gut sein und für mich noch eine Million bei der Maschine auf ‚Feldherr‘ setzen? Sehen Sie, alle Gäule sind nervös, naß vor Schweiß, nur ‚Feldherr‘ ist staubtrocken und steht ruhig da. Einfach Vertrauen einflößend.“
Mautner konnte gerade noch die Million anbringen; als er wieder in der Loge war, ging die weiße Fahne tief, flog das Band auf und die vierzehn schönen Pferde sausten dahin, zuerst in einem Rudel, ein Klumpen, der unlösbar schien. Erst nach der halben Distanz lockerte sich das Knäuel, einige Gäule fielen glatt ab, andere schoben sich in den Vordergrund und schon ertönten die Rufe der Aufgeregten:
„Hitler — Feldherr — Nationalrat —“
Die Farben der drei Gäule lagen dicht nebeneinander an der Tete, zuerst die blauen des Favorits, dann das Grellrot des von Mautner gesetzten Pferdes und dicht daneben der Orangedreß des „Feldherr“.
Die Pferde bogen in die Gerade, die Hälfte von ihnen kam nicht mehr in Betracht. „Feldherr“, „Nationalrat“ und „Hitler“ führten. Nun kamen sie vor die Tribüne und die Aufregung wurde ungeheuer. Der Reiter des „Nationalrat“ riß den Gaul nach vorne, mit riesigen Galoppsprüngen gewann er Raum, „Feldherr“ aber schien an seiner Flanke zu kleben.
Das Glas zitterte in der Hand Mautners. Zwei Sekunden noch und er hatte gesiegt, die Pechserie war gebrochen.
Da plötzlich ein Raunen, das zum Brausen wurde, ein Toben und Heulen der Menschenmassen. Der Reiter des „Nationalrat“ griff zur Peitsche. „Nationalrat“ fiel zurück und wie ein abgeschossener Pfeil flog „Feldherr“ an ihm vorbei durch das Ziel.
Frau Sonja klatschte vergnügt in die Hände und wendete sich zu dem unbeweglich hinter ihr stehenden Mautner:
„Sehen Sie, ich habe Pferdeverstand! Aber warum so blaß, lieber Freund, haben Sie sich anderwärts stark engagiert?“
Mautner lächelte krampfhaft.
„Keine Spur! Nicht der Rede wert, nur der interessante Endkampf hat mich gepackt!“
Gleichzeitig aber griff er in die rechte Westentasche und stellte fest, daß er gerade noch genug Geld besaß, um den Damen beim Büfett eine Erfrischung zu kaufen und später dem Chauffeur Frau Sonjas das übliche Trinkgeld zu geben.
5. Kapitel
Der erste schritt
Abends stand Mautner unschlüssig am Schottentor. Buchstäblich ohne einen Heller in den Taschen. Die Ausflügler stiegen aus den Straßenbahnwagen, lachende, singende, halb und ganz betrunkene Menschen zogen dahin und ihn überkam ein wehes, einsames Gefühl. Das Bewußtsein der Armut, der Verlassenheit schnürte ihm die Kehle zu, ließ ihn erschauern.
„Etwas muß geschehen,“ murmelte er vor sich hin, „irgendwie muß ich zu Geld kommen, ganz gleichgültig auf welche Art.“
Und schon fielen Hemmungen von ihm ab, schon drängten sich Urinstinkte in den Vordergrund, schon wandelte sich der gesittete Mensch in ein reißendes Raubtier, das nach Beute sucht. Er fühlte deutlich, was in ihm vorging, wie sich sein Wesen spaltete, lachte so laut auf, daß sich die Leute nach ihm umsahen.
„Ehrlichkeit, Ehrbarkeit, Achtung der Gesetze — alles Schwindel, von denen erfunden, die so satt sind, daß ihnen Ehrlichkeit am bequemsten und vorteilhaftesten ist. Ich war das alles auch noch vor zwei Stunden mit zwanzig Millionen in der Tasche, jetzt, als Bettler, bin ich bereit, unehrlich und gesetzlos zu sein.“
Mautner gab sich einen Ruck. Brutaler Wille kam über ihn, er schüttelte das Mitleid mit sich selbst, die Wehleidigkeit ab, war bereit, den Kampf aufzunehmen und mit allen Mitteln zu kämpfen, wenn es sein mußte, auch mit solchen, die man verbrecherisch nennt.
Er ging in das Café Herrenhof, in dem er früher immer nach Börsenschluß seinen „Türken“ genommen hatte. Das Sonntagspublikum fehlte an diesem schönen Frühlingsabend, nur die unentwegten Stammgäste, die jungen Leute, die vergeblich zwischen Literatur und Saldakonto schwanken, die berufsmäßigen Bohémiens, die kleinen Mädchen, füllten das Lokal, die innere Unruhe, Unzufriedenheit mit sich selbst, Unklarheit über die eigene Bestimmung, zersplitterte Erotik, vage Sehnsucht nach dem großen Abenteuer nicht im Elternhaus duldet, in dem man kein Verständnis für die Schmerzen einer neuen Jugend hat, diese kleinen Mädchen mit ihrem jeweiligen Flirt, der aus Mangel an Absteigequartieren nicht zum Verhältnis wird.
Und an einem langen Stammtisch, der durch die Verheiratung eines liebenswürdigen Roman-, Lustspiel-, Libretti- und Filmdichters bis auf weiteres sein Oberhaupt verloren hatte, saßen ein paar Schauspieler, ein blasser Rentier, der Leiter eines großen Industrieunternehmens, der ewig jung blieb, weil er abends aus Baumwolle und Garn immer zu den Jungen, noch nicht Arrivierten flüchtete.
Auf ihn ging Mautner zu, erzählte lachend, daß er ein paar Millionen in der Freudenau verloren habe und total abgebrannt sei. Worauf sich ihm der Generaldirektor selbstverständlich zur Verfügung stellte, und Mautner der entgegengehaltenen Brieftasche einen Fünfhunderttausendkronenschein entnahm.
Um zehn Uhr stand er wieder auf der Straße. War todmüde und konnte doch nicht nach Hause gehen. Quälende Unrast ließ ihn das Alleinsein mit sich selbst fürchten. Außerdem graute ihm vor dem morgigen Tag. Vielleicht würde der städtische Kassierer mit der Rechnung für den Stromverbrauch kommen, die Bedienerin Geld verlangen. Nein, er mußte sich heute noch einen größeren Betrag verschaffen, mußte über die Sorgen für die nächsten Tagen hinauskommen, diese Tage, die der Eroberung der Frau Sonja Gordon gewidmet sein sollten. Er versuchte, an Frau Sonja zu denken, aber dachte immer wieder an die liebliche kleine Jutta. Vor der Mutter empfand er ein heimliches Grauen. Irgendwie wirkte sie auf ihn unsympathisch, fühlte er sich ihr nicht gewachsen, ahnte er sexuelle Abgründe, die ihn von ihr trennten. Jutta aber — war sie nicht die Verkörperung seines Ideals in ihrer schlanken, taufrischen Mädchenhaftigkeit? — Und doch — irgendein Geheimnis ruhte hinter diesen scheuen, erschreckten, großen Mädchenaugen, die ihn immer fragend, bittend, nach Erlösung flehend, ansahen.