KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
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Kung leerte die Tüten in den PrepBoy, wartete, bis das Frühstück fertig war, dann nahm er die beiden Schalen heraus, nahm vier Stäbchen aus der Schublade, schenkte lauwarmen Tee in zwei Becher und balancierte alles auf einem fleckigen Bambustablett zum Tisch.
Xialong sah ihn fragend an, und als er nickte, machte sie sich hungrig über das Omelett her. Trotzdem aß sie mit Bedacht und führte die Stäbchen zum Mund, anstatt sich den Reis aus der Schale zwischen die Lippen zu schaufeln. Kung gefiel, was er da sah, und unwillkürlich bemühte er sich, den Tee ohne lautes Schlürfen zu trinken. Als sie gegessen hatten, sagte er: »Und jetzt erzähl.«
6
Tschoulao liebte die Ordnung. Die Ordnung verlieh dem Leben Sinn. Ordnung bedeutete, zwischen gut und richtig, wahr und falsch zu unterscheiden. Ordnung war größer als der einzelne Mensch mit seinen kleinlichen Wünschen. Ihm stand es gut an, sich unterzuordnen, wenn er des großen Sinns teilhaftig werden wollte. Die Alten hatten dies gewusst, sonst hätte das Reich mit seiner langen Abfolge von Kaisern nicht Jahrtausende überdauert und wäre nicht aus jeder Krise in neuer Pracht wiederauferstanden. Und auch die Partei wusste es und duldete keine Widersacher neben sich, welche die Menschen hätten in Verwirrung stürzen und das kostbare Gebäude des Staates gefährden können. Indem sie ihre Macht eifersüchtig hütete, schützte sie das große Ganze. Die Partei war klüger als der Einzelne. Der hatte nur zwei Augen. Die Partei hatte viele.
Auch Tschoulao hatte sein Leben lang seinen Beitrag geleistet, und er tat es noch immer, als Nachbarschaftswächter. Im Hutong war das einfach gewesen. Die Hälfte des Lebens spielte sich auf den Gassen und in den kleinen Innenhöfen ab. Jeder kannte jeden, nichts blieb verborgen. Er war ein respektierter Mann gewesen, mit dem man gerne sprach und den man um Rat fragte, wenn es Probleme mit der Ausbildung der Kinder oder der Medikamentenrechnung gab. Seine »Drähte« – so nannte er die Kontaktleute, denen er zweiwöchentlich Bericht erstattete – waren kein Stigma gewesen, sondern Ansprechpartner, an die man sich wandte, wenn es irgendwo hakte. Sie waren ein Teil des Lebens gewesen, so wie er ein Teil des wimmelnden, stinkenden, verfallenden Hutongs gewesen war.
Jetzt wohnten sie in neuen, modernen Häusern. Sie sahen fern an der Wand, es stank nicht mehr nach Schimmel und Pisse, doch die Probleme waren nicht geringer geworden. Mal war das Leitungswasser rot von Rost, mal kam es in den obersten Stockwerken gar nicht erst an. Mal gab es einen Kurzschluss in der Wand, dann wieder war der Lift ausgefallen, oder jemand hatte das Treppenhaus verunreinigt. Geld hatten die Leute auch nicht mehr als früher, doch es schien so, als wären mit der Höhe ihrer Behausungen ihre Ansprüche ins Unermessliche gewachsen. Hatte er etwa die Kabel mit der brüchigen Isolierung in die Wand eingebaut? Konnte er etwas dafür, wenn der Wasserdruck in den Leitungen nicht ausreichte? Und weshalb verstellten sich andauernd ihre Fernsehwände? Mit allem Ärger, ob berechtigt oder nicht, kamen sie zu ihm, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die Beschwerden an den Hausmeisterservice weiterzugeben, der allzu selten mit seinem schicken roten Lieferwagen vorfuhr und allzu schnell wieder weiterzog. Seine Drähte halfen auch nicht weiter, denn er hatte nichts mehr zu berichten, was sie mit Gefälligkeiten hätten erwidern mögen. Die Wohntürme der Glücklichen Familie waren für ihn undurchsichtig. Von dem Leben, das sich hinter den Wänden abspielte, war er ausgeschlossen. Die Menschen vertrauten ihm nicht mehr, sie erzählten ihm nichts. Kam er in ihre Nähe, wurden sie stumm wie Fische. Zu ihm kamen sie nur, wenn es etwas zu schimpfen gab. Ansonsten warfen sie ihm böse Blicke zu, als wäre er persönlich schuld an ihrer Umsiedlung. Dabei hätten sie dankbar sein sollen, dass die Partei sie aus dem stinkenden Schmutz herausgeholt hatte.
Manchmal kam er sich überflüssig vor.
Heute war es anders. Eine Frau war aus Onkel Wus Wohnung gekommen.
An der Wand des Wohnraums liefen, säuberlich aufgeteilt in acht Reihen, die Programme des staatlichen Fernsehens und die Bilder der Flurkameras aus dem Block, in dem er wohnte. Alle paar Minuten wurde automatisch auf eine andere Auswahl von Kameras umgeschaltet. Praktisch konnte er das Kommen und Gehen im ganzen Haus verfolgen. Dass er den Bildern vielleicht nicht immer genügend Aufmerksamkeit schenkte, lag daran, dass sie ihn verwirrten. Die moderne Technik war etwas für die Jungen, so war das nun mal. Im Grunde war sie doch nur eine teure, schick gemachte Krücke für all die Dinge, die sich früher von selbst ergeben hatten.
Dass er die Frau bemerkt hatte, lag daran, dass Onkel Wu so gut wie niemals Frauenbesuch bekam. Tschoulao hatte schon seit Jahren ein Auge auf ihn, denn er hatte den Eindruck, hinter der gelassenen Maske des alten Mannes verberge sich gefährlicher Hochmut und tief verwurzelte Verachtung für die Partei. Dass die Leute ihn mochten und dass die alten und auch jüngeren Männer zu ihm kamen, um Tee zu trinken und Go zu spielen, war unverständlich und auch ungerecht. Auch Tschoulao beherrschte das Spiel, obwohl es von den Japanern erfunden worden war. Auch er hätte gern hin und wieder eine Partie gespielt, doch bei ihm klopfte niemand an, und wenn er irgendwo vorstellig wurde, speiste man ihn mit billigen Ausflüchten ab.
Er vergrößerte das Bild der Frau. Sie war jung, schön und teuer gekleidet, machte aber einen nervösen, erschöpften Eindruck. Ihr Blick huschte unruhig umher – verdächtig. Er beobachtete, wie sie im Treppenhaus verschwand – der Lift funktionierte nicht, und sämtliche Kameras waren dort defekt, von kriminellen Elementen zerstört. Als die junge Frau auf die Straße trat, hatte sie eins dieser selbstfahrenden Räder bei sich. Offenbar hatte sie es vorschriftswidrig in einem unabgeschlossenen Putzmittelraum abgestellt. Sie stellte sich aufs Trittbrett, platzierte ihren kleinen Hintern auf dem Sitz und fuhr los.
Tschoulao packte eine Portion scharfen Bratreis ab, tat ihn zusammen mit einer Thermoskanne grünen Tee in seinen Rucksack und legte für den Fall, dass ihm die Zeit lang werden sollte, ein Buch dazu, »Über die Freuden der Pflicht« von Meister Chen, ein Klassiker aus dem siebzehnten Jahrhundert, der heute leider zu Unrecht nahezu vergessen war.
Vor dem kleinen Schrein neben der Tür hielt er einen Moment inne. Angestrahlt von der Ewigen Kerze hing links ein kleines Porträtfoto seiner früh verstorbenen Frau und rechts davon ein größeres Abbild des amtierenden Ministerpräsidenten, der in seinem dunklen Anzug streng auf ihn herabsah.
Er schob den Fotorahmen beiseite. Dahinter kam ein Foto Mao Zedongs zum Vorschein. Das gütige Lächeln des unsterblichen Großen Vorsitzenden wärmte ihm das Herz. Der Partei galt seine Treue, Mao seine Liebe. Sicher, der Große Vorsitzende hatte Fehler gemacht, aber wer handelte, machte sich nun mal die Hände schmutzig, so einfach war das. Und niemand hatte mehr getan für China als er.
Tschoulao beugte sich vor und küsste Mao auf die rosige Wange, auf der sich ein bräunlicher Fleck abzeichnete – kein Muttermal, sondern die Spur der Verehrung. Er ließ den gerahmten Ministerpräsidenten zurückgleiten, dann trat er auf den Flur und wandte sich zum Ausgang. Im Treppenhaus stank es nach gebratenem, eingelegtem und gekochtem Kohl und nach verbranntem Plastik. Draußen roch es anders, nach Staub und Hitze. Er stieg die Treppe der Überführung hoch, hielt Ausschau nach der jungen Frau, doch sie war natürlich nicht mehr zu sehen. An der Seite der Überführung war eines dieser neuartigen Banner angebracht. Er wusste, dass sie auf die unter ihnen vorbeifahrenden Autos reagierten und den Insassen genau das anzeigten, woran sie gerade dachten oder was sie sich insgeheim wünschten. Er hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, aber eines war sicher: