KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe

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Park setzte er sich auf eine Bank, von der aus er durch das Gebüsch und den Zaun hindurch den Eingang des vierten Turms der Glücklichen Familie im Auge behalten konnte, und packte den Reisball aus. Er stellte die Thermosflasche daneben und steckte sich den ersten Brocken in den Mund. Die Gewürzmischung hieß »Bunter Süden« und schmeckte nach salzigem Tang.

      Es war Vormittag, und die Bäume an der Ostseite warfen ovale Schatten. Dort hatten sich auf den Bänken die Alten versammelt, wiegten die Köpfe und taten so, als ob sie sich über ihre Zikaden unterhielten. In Wirklichkeit lästerten sie über die Partei, ganz bestimmt. Nach einer Weile tauchte Onkel Wu auf. Köpfe nickten, Hände wurden grüßend gehoben, ein ausgemergelter Greis stemmte sich mühsam hoch und klopfte Onkel Wu auf die Schulter. Lächelnd ging er zu seiner Lieblingsbank, auf der immer ein Platz für ihn frei war, und hängte, bevor er sich setzte, seinen Zikadenkäfig mit einem Doppelhaken an einen tief herabhängenden Ast des Gingkobaums. Dann machte er die Beine lang und unterhielt sich mit seinem Banknachbarn.

      Tschoulao packte den halb verzehrten Reisball zusammen mit der Thermosflasche in den Rucksack. Niemand hatte sich zu ihm gesetzt, niemand hatte ihn angesprochen. Heute war ihm das egal. Er verließ den Park durch den stadtzugewandten Ausgang und ging außen herum zur Glücklichen Familie zurück. Niemand wusste, dass er einen Generalschlüssel besaß, der ihm Zugang zu allen Wohnungen verschaffte. Damit sein kleines Geheimnis nicht bekannt wurde, machte er nur selten von seinem Vorrecht Gebrauch. Heute war das anders. Nachdem er den Rucksack in seiner Wohnung abgelegt hatte, stieg er langsam die Treppe hoch. Wu wohnte in der dritten Etage. Als er schnaufend vor dessen Wohnungstür stand, drückte er den Schlüssel auf das Identfeld an der Wand. Die Tür sprang auf. Er trat rasch ein und schloss hinter sich die Tür. Der Schnitt der Wohnung war der gleiche wie bei allen Einpersonenunterkünften. In der kleinen Küche Spuren der milden Verwahrlosung, der alleinlebende alte Männer nicht entgehen konnten (wie Tschoulao aus eigener Erfahrung wusste). Das Bett im schmucklosen Schlafraum hingegen ordentlich gemacht. Im Wohnzimmer ein paar Andenken ans Hutong – hier ein Holzschemel, dort ein Foto, das ein älteres Paar vor einem Gemüseladen zeigte, der Mann mit spitzem Hut, die Mutter verschämt lächelnd, vielleicht Wus Eltern. Ein größeres Viddy mit den herumtollenden ersten chinesischen Mondastronauten, im Hintergrund die funkelnde Landefähre und die blaue Erdkugel. Abgegriffene Bücher, ein Tab mit gesprungenem Display. Kein Foto des Ministerpräsidenten, dafür ein Koffer neben dem Sofa. Er klappte ihn auf: Damenunterwäsche, Strümpfe, zwei Blusen, eine Hose, Strümpfe, eine dunkelrote Ledertasche, darin Toilettenartikel, Frauenkram. Und unter einem Pullover eine kleine, rotbraune Schlange. Er starrte sie an, wartete auf eine Bewegung, doch sie regte sich nicht. Die Schlange war wie tot. Was hatte sie im Koffer verloren? Vorsichtig streckte er die Hand aus, tippte sie in der Körpermitte an. Die Schlange färbte sich smaragdgrün. Blitzschnell spannte sie sich wie eine Feder, schnellte hoch, legte sich um sein Handgelenk und zog sich zusammen.

      Tschoulao schrie. Er schlenkerte voll Abscheu die Hand, doch die Schlange löste sich nicht. Schließlich packte er sie mit der Linken. In dem Moment, da er sie berührte, wich die Spannung aus der Schlange, und er konnte sie mühelos entfernen. Sie hing zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein toter Wurm, wieder gelbbraun wie zuvor. Er wollte sie gegen die Wand schleudern, hielt aber plötzlich inne und besah sich den Schlangenwurm in seiner Hand. Allmählich begriff er, dass es sich um Schmuck handelte – um einen Armreif. Und es war gar keine Schlange, sondern ein sehr schlanker Drachen mit reliefartig angedeuteten Pranken und Flügeln. Fluchend ließ er ihn auf den Tisch fallen.

      In diesem Moment schaltete sich die Fernseherwand ein. Er nahm die Lichtveränderung aus den Augenwinkeln wahr und drehte sich um. Von schräg oben blickte er auf einen Platz mit grauem Pflaster, auf dem mehrere erdfarbene Zylinder standen. Bis auf einen standen alle still. Tag zwölf wurde rechts unten angezeigt. Im Hintergrund waren schneebedeckte Berggipfel zu sehen, dann kam ein weißes, mehrstöckiges Gebäude mit dunkelrotem Aufbau und zahlreichen Fenstern in Sicht. Das war der Palast des Dalai Lama, den die Rote Garde seinerzeit aus unerfindlichen Gründen verschont hatte. Und in dem sich drehenden Zylinder zog angeblich der Kleine Mönch seine Runden und wiegelte die Leichtgläubigen zu staatsfeindlichem Denken auf, dem irgendwann terroristische Taten folgen würden.

      Ha! Onkel Wu, der harmlose, freundliche Alte mit der Zikade, war ein Volksverräter! Der verbotene Fernsehsender und der Besuch der jungen Frau deuteten sogar darauf hin, dass er einer Widerstandsgruppe angehörte und aktiv gegen den Staat arbeitete. Tschoulao hatte es geahnt, und jetzt war seine Vermutung Gewissheit geworden. Der nachklingende kalte Schock verwandelte sich in glühenden Hass. Er stürzte in die Kochnische, wühlte mit zitternder Hand ein Messer aus einer Schublade, eilte in den Wohnraum zurück und begann die Wand zu zerkratzten. Die Kratzer verbreiterten sich in der Displayschicht zu schwarzen Kanälen, was aussah, als werde Tibet von einem Erdbeben heimgesucht, das den Palast der Volksverdummer mitsamt den lächerlichen Gebetsmühlen und den verblendeten Gaffern verschlingen würde.

      Es knisterte, dann wurde die Wand erst schwarz, dann grau.

      Tschoulao stemmte die Hände in die Seite und betrachtete sein Werk voll Genugtuung, dann steckte er das Drachenarmband in die Tasche und ließ sich per Sprachwahl mit seinem Vertrauensoffizier verbinden.

      »Ich möchte Anzeige erstatten«, sagte er, als die Automatenstimme sich meldete. »Es geht um einen Nachbarn.«

      

      7

      Es war später Abend, doch davon war in Kungs gruftartiger Behausung nichts zu merken. Hier herrschte ewiges Halbdunkel, in dem die Displays und Kontrollleuchten glommen wie das Cockpit eines Raumfahrzeugs. Es war, als habe sich das normale Leben auf einen anderen Planeten zurückgezogen, und die einzige Verbindung zwischen dieser zeitlosen Kapsel in der Leere des Raums und dem Alltag der Menschen seien schmale Funkbänder und flackernde Bilder, die umso unverständlicher erschienen, je länger man sie anschaute. Sie gehörten einer fremden Welt an, in der andere, undurchschaubare Regeln galten.

      Xialong war es recht. Der schummrige Raum mit seinen bunten Punktlichtern übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, ganz so, als wären mit den momentanen Sorgen auch die dahinter verborgenen Probleme verschwunden.

      Kung wusste, dass dies ein Irrtum war.

      »Gib mir mal dein Com«, sagte er.

      »Das hab ich bei Onkel Wu gelassen, weil es nicht mehr richtig funktioniert hat. Ist übrigens das Gleiche wie deins.«

      »Meins ist ein Plagiat.«

      »Oh.«

      »Jedenfalls müssen wir das holen.«

      »Holen?« Hieß das, sie durfte nicht bei Onkel Wu bleiben? Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie gehofft hatte, er werde sie solange bei sich aufnehmen, bis sich alles geklärt hätte. Und dass es sich aufklären würde, glaubte sie noch immer. Die verstörenden Geschehnisse der letzten Stunden würden sich als böser, aber letztlich substanzloser Albtraum entpuppen, und sie würde wieder einschwenken auf die schnurgerade in die Zukunft weisende Bahn, der sie ihr Leben lang gefolgt war. Anders konnte es nicht sein. Es wäre ebenso absurd gewesen, als wenn auf einmal zwei Sonnen am Himmel gestanden hätten.

      Kung seufzte. Sein Gesicht war ein heller Fleck, zusammengesetzt aus kleineren bunten Flecken. Er schwenkte den Teebecher in der Hand, ohne zu trinken.

      »Also, wie ich das sehe, hat jemand deine Identität angenommen und deine Passwörter und Log-ins geändert. Du hast gemeint, dieser Sammo habe deine Anwesenheit im Geschäft bestätigt?«

      »Das hat der Polizist gesagt. Ich habe nicht mit ihm gesprochen.«

      »Dafür

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