KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe

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war. »Ich glaube, wir haben genug gesehen«, sagte er. »Gehen wir?«

      »Noch nicht«, sagte Xialong.

      Ein Sauger eierte über den Boden, vorbei an den Kisten, die vor dem geschlossenen Tor gestapelt waren und darauf warteten, am nächsten Tag von Tsema ausgepackt zu werden. Das Gerät gab ein unangenehmes Geräusch von sich, ein leises Scharren, Kratzen, Wimmern wie von etwas Eingesperrtem.

      Xialong zog den Staubschutz ab. Der Bot stand reglos da, mit baumelnden Armen und hängendem Kopf. Ein Kabel führte zur Wand, wo im Regal grün die Kontrollleuchte der Strombuchse glomm. Nicht nur aufgrund ihrer Größe wirkte die Maschine irgendwie bedrohlich. Die schwarze Latexmaske, der rote, im Schein der Kopfleuchten kalt glänzende Mund und das Lederkorsett erzeugten die Wirkung eines Aliens, der jeden Moment zum Angriffsmodus übergehen mochte. Sie wirkte Respekt einflößend.

      »Ich habe vielleicht keine Freunde«, sagte Xialong entschlossen, »aber ich will auch nicht allein sein.«

      »Aber das da?«, sagte Kung.

      »Ist das neueste, leistungsfähigste humanoide Modell des Jiqiren-Konzerns, mit vollkommen natürlicher, hochflexibler Stimmmodulation und nur noch ganz aus der Nähe von einem Menschen zu unterscheiden. Natürlich muss sie etwas anderes anziehen.«

      »Sie?«

      »Dali, die Herrin. Und einen anderen Namen braucht sie auch.« Xialong zog den Stecker aus der Strombuchse und ließ es in die Achselgrube einschnappen. Nach kurzem Zögern schaltete sie den Bot ein. Ein kaum wahrnehmbarer Ruck ging durch die Maschine, dann hob sie den Kopf. In den Löchern der Gesichtsmaske hoben sich täuschend echte Lider. Dunkelbraune Augen schauten hervor, blickten nach rechts und nach links und richteten sich dann auf Xialong.

      »Null-null-null-null«, sagte die Xialong. »Kalibrierung.«

      »Bestätige: Kalibrierung.«

      »Neuer Name: Litse.«

      »Bestätige: Neuer Name Litse.«

      »Neues Passwort: Regenpfeifer.«

      »Bitte wiederholen Sie das neue Passwort.«

      »Regenpfeifer.«

      »Bestätige: Neues Passwort Regenpfeifer.«

      »Und sag bitte du zu mir, Litse.«

      »Bestätige: Ich sage du zu Ihnen.«

      »Zu dir.«

      »Bestätige: Zu dir.«

      »Kalibrierung beendet.« Xialong nickt zufrieden und wandte sich zu Kung herum, der die Prozedur wortlos beobachtet hatte. »Na?«, sagte sie nicht ohne Stolz.

      »Was, na?«

      »Litse kann sogar Humor.«

      »Oh«, machte Kung. »Jetzt, wo du's sagst …«

      Xialong schaltete den Rechner aus. Das Display erlosch und verschwand in der Tischplatte. Sie gingen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, doch diesmal waren sie zu dritt. Im Verkaufsraum winkte Xialong in einem Anflug von Übermut in die Überwachungskamera. Sie spürte Litse hinter sich wie eine alte Freundin, die sie immer schon begleitet hatte, und ganz falsch war das nicht, denn Litse war jetzt auf sie geprägt und würde sie niemals im Stich lassen. Sie war nicht mehr allein. Und in diesem von Ungewissheit zitternden Moment hoffte sie, dass auch sie eine Zukunft haben möge. Sie versuchte, sie sich vorzustellen, doch es gelang ihr nicht.

      

      8

      Der Himmel über Lhasa war tiefblau, die Luft glasklar, und der Schnee auf den Bergen leuchtete so grell, dass es den Augen wehtat. Die Hänge, Grate und Gipfel wirkten überwirklich und so nah, als reichte eine kleine Willensanstrengung aus, um sich den Vögeln gleich emporzuschwingen und zu den friedlichen Buddhas, den lächelnden Bodhisattvas, den zornigen Dharmapalas und den grimmigen Himmelskönigen zu fliegen, die sich nicht ohne Grund diesen Ort zur Heimat gewählt hatten. Aber so überirdisch schön der Tag auch war, lag doch eine lastende Stille über der sonst so geschäftigen Stadt. Die Werkstätten und Läden der Tibeter hatten geschlossen, auch viele ansässige Chinesen waren ihrem Beispiel gefolgt. Der Verkehr war fast zum Erliegen gekommen. Auf den Gehsteigen, in den Gassen und auf den Plätzen waren kaum Menschen unterwegs, und die wenigen, die einander begegneten, nickten einander zu, als wären sie Freunde, die ein bedrückendes Geheimnis miteinander teilten.

      Es war, als wäre die ganze Bevölkerung der Stadt am Platz vor dem Potala-Palast zusammengeströmt, über dem wie Raubvögel die Drohnenfänger mit ihren Netzkanonen kreisten. In Wahrheit waren es nur einige Hundert, mehr Menschen hatten die eilig errichteten Straßensperren nicht überwinden können. Doch sie wirkten vervielfältigt in ihrem trauernden Schweigen, denn sie waren Stellvertreter all derer, die in diesem bewegenden Moment nicht zugegen sein konnten und doch auf eine geheimnisvolle, übernatürliche Weise anwesend waren.

      Die siebzehnte Gebetsmühle hatte am fünfzehnten Tag aufgehört, sich zu drehen.

      Der Kleine Mönch war tot.

      Fünfzehn Glaubensbrüder in ziegelroten Gewändern knieten an der Absperrung am Rand des Platzes, intonierten Mantras, die zugleich aus dem Bauch der Erde und dem Himmelsäther zu kommen schienen. Mit geschlossenen Augen, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, wippten sie zeitlupenhaft verlangsamt mit den Oberkörpern. Recht und links von ihnen standen zwei chinesische Polizisten mit geschultertem Gewehr, aufrecht, mit starrem Blick und einem Glitzern in den Augen, das vielleicht vom Wind kam, der in Böen von den Bergen herunterwehte, vielleicht aber auch nicht.

      Ein kleiner rot-weiß lackierter Kranwagen bog von der Straße zum Platz ein. Zwei Soldaten trugen das Absperrgitter weg, dann fuhr der Wagen durch die Lücke, beschrieb einen Bogen, hielt an und setzte zu der Gebetsmühle mit dem Kleinen Mönch zurück. Der Fahrer, bekleidet mit einem blauen Arbeitsoverall, stieg aus, in der Hand eine Fernbedienung. Der Kranausleger schwenkte über die Gebetsmühle und verlängerte sich. An seinem Ende befand sich kein Haken, sondern eine Art Tülle. Plötzlich schoss ein Netz heraus, das die tönerne Walze vollständig umschloss und dessen Öffnung lose auf dem Boden auflag. Zwischen den Netzfäden war eine dünne, undurchsichtige Folie zu erkennen. Der Kranwagenfahrer richtete die Fernbedienung auf das Netz, worauf es sich langsam zusammenzog. Dann hob der Kran die Gebetsmühle mitsamt dem Sockel an. Einen Moment lang schwankte sie am Ausleger hin und her, dann wurde sie herumgeschwenkt und auf die Ladefläche abgesenkt.

      Ein Aufstöhnen ging durch die Menge der Zuschauer. Als der Kranwagen abfuhr und hinter der Platzabsperrung auf die Straße einbog, wurde gerufen. Viele Menschen weinten. Bewegung entstand, zeitgleich an mehreren Orten – erst ein Wogen auf der Stelle, dann bekam es Richtung und entwickelte Kraft. Während die fünfzehn knienden Mönche unverdrossen weitersangen, drängte die Menge gegen die Absperrung vor. Die Polizisten und Soldaten lösten die Tränengasmasken vom Gürtel und setzten sie auf. Schüsse fielen. Sirenenlärm näherte sich.

      Der Einsatzleiter, ein dünner Mann in einer zu weiten Uniform, hatte einen Auftrag. Die Einsatzregeln waren eindeutig. Er hob das Com an den runden Gasmaskenfilter: »Die Situation gerät außer Kontrolle.«

      Es roch nach Angst. Sie war in den fleckigen Betonwänden

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