KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe

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in der Zwischenzeit ein wenig geschlafen hatte, blickte ihm fragend entgegen.

      »Ich komme mit«, sagte er.

      »Das kannst du nicht machen«, sagte sie schnell.

      »Ich hab nachgedacht da drinnen«, entgegnete er. »Wenn sie bei Onkel Wu waren, werden sie über kurz oder lang auch bei mir anklopfen. Und glaub mir, hier gibt es einiges zu finden.« Er stellte die Tasche ab, setzte sich vor die Bildschirmwand, holte den Stick mit den X-Coins aus der Schublade und steckte ihn in die Buchse. Er überspielte etwas, dann hielt er den Stick an sein Schulterimplantat. Den Stick warf er auf den Boden und trampelte darauf herum. Dann steckte er einen zweiten Stick ein. Ein an- und abschwellendes Winseln kam aus den Lautsprechern, auf den Displays wurden die aus dem ganzen Land zusammengetragenen Trauerfeiern für den Kleinen Mönch von einem roten Symbol mit blinkendem Eingabefeld ersetzt. Kung machte eine Tastatureingabe, und Xialong bemerkte, dass seine Hände zitterten.

      »Du willst alles löschen«, sagte sie.

      »Keine Spuren hinterlassen«, sagte er gepresst. »Nichts zurücklassen. Einfach abtauchen und verschwinden.«

      »So plötzlich?«

      »Vielleicht habe ich mir das sogar immer gewünscht, weißt du? Aber es ist nicht leicht, das kannst du mir glauben. Für dich ist das hier bestimmt armselig. Aber ich habe Jahre gebraucht, um es mir aufzubauen. Um der zu sein, der ich bin. Jetzt muss ich ein anderer werden.«

      Xialong fand seine Entscheidung ein wenig vorschnell, und für ihren Geschmack klang das alles auch ein bisschen zu pathetisch. Reichte es nicht aus, dass ihr Leben in Trümmern lag? Aus Angst, ihn zu verletzen, enthielt sie sich einer Bemerkung. Sie wollte ihm nicht unter die Nase reiben, dass sie älter war als er und möglicherweise trotz all ihrer Beschränkungen auf einen weiteren Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte. Und außerdem war es in diesem Moment für sie ein Trost, dass sie in Begleitung eines Menschen ins Unbekannte aufbrechen würde und nicht bloß in Gesellschaft eines Bots, der ihr, das gestand sie sich nüchtern ein, unheimlich war.

      Codezeilen jagten über die Bildschirme, das Alarmwinseln hatte aufgehört. Kung stand auf, hockte sich vor die Schlafpritsche, langte darunter und zog den Arm wieder zurück. Staubmäuse mit eingebackenen Fußnägeln klebten an seinem Ärmel, in der Hand hielt er ein altmodisches Tastenhandy. Erstaunlicherweise war der Akku geladen. Er tippte eine Nummer ein. Er wartete, bis die Verbindung hergestellt war, dann sagte er langsam und deutlich: »Der kleine Racker möchte Gassi gehen. Kommst du mit?« Er unterbrach die Verbindung.

      »Was war denn das?«, fragte Xialong verblüfft.

      »Das war ein Code. Jetzt weiß Nikita, was sie tun soll.«

      »Und was soll sie tun?«

      »Sich um mein digitales Vermächtnis kümmern!«, fauchte Kung. »Ach, Scheiße.« Er wischte sich über die Stirn. »Es gibt da ein, zwei Accounts, zu denen sie das Passwort hat. Da wird sie sich drum kümmern, solange ich die Füße stillhalten muss.«

      Kung richtete sich auf. »Wir können«, sagte er betont forsch. »Hast du schon einen Plan?«

      Xialong lächelte zaghaft. »Wie wär’s, wenn wir erst mal etwas essen?«

      

      9

      Die rüstigen Alten auf dem Rasen hatten die Form »Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus« eingenommen. Da sie auf Flatterbewegungen verzichteten, sah es so aus, als hätten sie sich längst damit abgefunden, dass sie sich nie wieder in die Lüfte erheben würden. Tschoulao fand es realistisch, dass sie sich in ihre Lage schickten, doch da er an diesem besonderen Morgen vielleicht ein wenig empfänglicher als sonst für die unterschwelligen Äußerungen seiner Umgebung war, empfand er auch eine ganz eigene Art von Mitgefühl – eine Art wohliges Bedauern, das ihm umso angenehmer war, als es anderen galt und nicht ihm selbst. Auch die Blicke der Alten auf der Bank schräg gegenüber steigerten sein Behagen. Der eine, ein besonders hässlicher Mann mit einem Glasauge und gelblich-weißem Bart, der an eine alte Klobürste erinnerte, hatte ihm sogar zugenickt. Er wusste, dass nicht Freundlichkeit der Grund war. Aber die Menschen beachteten ihn wieder, und mit der Zeit würden ihre kleinbürgerlichen Aufwallungen einer wenn schon nicht politischen, dann immerhin realistischen Einsicht weichen, und irgendwann würde gewohnheitsmäßige Achtung daraus. Vielleicht würde es sogar wieder ein wenig so sein wie früher im Hutong.

      Er hatte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein.

      Es war ein warmer Morgen, und es würde ein heißer Tag werden. Das Gras, auf dem die Alten die Tai-Chi-Formen der Vorturnerin imitierten, färbte sich bereits gelb. Wenn es so weiterging und nicht bald Regen fiel, würde es ganz und gar verbrennen. Im Fernsehen hatte es geheißen, die Sonnenstrahlung sei dieses Jahr besonders stark und in den Mittagsstunden unbedingt zu meiden. Nun, im Schatten des Gingkobaums scherte ihn das nicht. Er hatte den Stammplatz von Onkel Wu ganz selbstverständlich eingenommen, denn schließlich hatte er ihn sich verdient. Im Nachhinein wunderte er sich, weshalb er den alten Konterrevolutionär so lange hatte gewähren lassen. Das war schließlich ein öffentlicher Park, beziehungsweise ein Park für die Bewohner der Glücklichen Familie, und Privilegien, zumal solche, die jemand sich grundlos selbst zusprach, hatten hier nichts verloren.

      Die berechtigten Ansprüche eines alten Dieners der Partei waren natürlich etwas ganz anderes.

      Tschoulao lachte glucksend, schraubte die Thermosflasche auf und trank einen Schluck heißen grünen Tee. Er stellte die Flasche ab, dann stand er auf, ging zu einem tiefhängenden Ast und nahm den Haken ab, an dem ein kleiner Holzkäfig baumelte. Der schwere Drachenreif aus Onkel Wus Wohnung rutschte an seinem erhobenen Arm herum, was sich angenehm anfühlte, fast so, als gehörte er schon lange zu ihm. Er setzte sich wieder, stellte den Käfig auf sein Knie und beobachtete die eingesperrte Zikade. Das Tier hatte einen blauschwarzen Körper mit kräftig wirkenden Beinen, fast durchsichtige Flügel und rote Knopfaugen. Es war überraschend groß und hässlich. Nach einer Weile erzitterten die Flügel, und es ertönte ein rhythmisches, durchdringendes Schnarren.

      Tschoulao schaute sich um. Auch andere Parkbesucher hatten ihre Zikade dabei. Manche Käfige hingen im Gebüsch, andere standen auf den Bänken, auf denen die Männer rauchten und die Frauen sich unterhielten. Überall zirpte und schnarrte es. Er hatte keine Ahnung, was die Leute daran fanden, aber er würde es herausfinden. Vielleicht war es ja gar nicht so falsch, ein bisschen so zu sein wie die anderen. Vielleicht gehörte das zu seinem neuen Leben, das heute beginnen sollte.

      Tschoulao war so sehr mit seiner Zikade beschäftigt, dass er das große Fluginsekt nicht bemerkte, das von der Straße in den Park schwenkte. Es schwirrte heran, umkreiste einmal die Bank, dann ließ es sich auf seinem Nacken nieder, der entblößt war, weil er sich auf den Holzkäfig vorgebeugt hatte. Er nahm ein Kitzeln wahr, doch ehe er das lästige Insekt verscheuchen konnte, stach es zu. Verblüfft rieb er über die Stelle, an der eben noch die Motte gesessen hatte. Der Einstich brannte, und das Brennen breitete sich rasch aus. Es strömte in seinen Kopf und löschte den Park aus, den Tag und die Erinnerung an gestern und die Tage davor.

      Tschoulao vergaß und starb.

      

Teil 2

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