KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
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Er schlug die Augen auf. Es war viertel nach elf, verflucht früh für seine Verhältnisse, und an seinem Arbeitsplatz blinkte das Besucher-Icon. Er hatte etwa viereinhalb Stunden geschlafen, viel zu wenig nach einer arbeitsreichen Nacht. Benommen glotzte er den Stream der Türcam an, den das Com in die Dunkelheit projizierte, dann wälzte er sich auf die Seite, tastete auf der Kiste neben dem Bett zwischen Snackkartons, Atemmasken, aktiven Nasenstöpseln und InEars nach einer sechseckigen Pille und steckte sie sich in den Mund.
Dann raus aus dem Bett und zur Tür getappt, mit einer Hand den Slip mit dem ausgeleierten Gummibund haltend: »Ja?«
»Sind Sie … Kung?« Das Gesicht vom Monitor, erschreckt und ängstlich.
»Komm rein.«
Er überließ es ihr, die Tür zu schließen, tappte zurück ins Halbdunkel der Monitore und Stand-by-LEDs, ließ sich in einen Sessel fallen und stand noch einmal auf, um den Slip über seine Blöße hochzuziehen. Die junge Frau nestelte verunsichert an ihrer Kostümjacke.
»Du bist nicht Linh«, krächzte er.
»Ich bin Xialong. Ich …«
»Hab Linh erst morgen erwartet, aber egal. Ich brauche je einen Pack Sechser und Dreier und zehn Portionen Neeze. Aber, he, das Zeug ist mächtig, hätte fast den Arzt gebraucht.« Er beugte sich vor und tastete auf dem Tisch nach einem Geldstick.
»Meinst du Rauschgift?«, fragte Xialong.
»Hä?« Er hob den Kopf, blickte schräg von unten in ihr rundliches, erschrockenes Gesicht. »Was ist eigentlich los mit dir?« Er ließ den Stick fallen, schnellte hoch, trat vor sie hin, riss ihre Jacke auseinander und zog ihr die Bluse hoch, ehe sie reagieren konnte. »Da ist ja nichts.« Linh hatte immer einen gut gefüllten Bauchgürtel dabei, aber diese Besucherin hatte nichts weiter vorzuweisen als ihren nackten, flachen Bauch.
Xialong, von Furcht gelähmt, starrte den Slip an, der ihm die Beine runterrutschte, dann wanderte ihr Blick zu seinem Schulterhöcker. Der Bann löste sich. Mit einem Aufschrei raffte sie die Jacke vor der Brust zusammen und wich Richtung Tür zurück, doch Kung, den die Sechsertablette wiederbelebt hatte, stellte seine Beweglichkeit dadurch wieder her, dass er den um seine Füße gewickelten Slip wegkickte und ihr splitternackt den Weg verstellte. Sie hob abwehrend die Arme vor Gesicht.
»Bitte tu mir nichts«, bettelte sie.
»Nein, nein, nein«, sagte er, »so geht das nicht. Du tauchst hier auf, reißt mich aus dem Tiefschlaf und hast keine Ware dabei – ich würde sagen, du schuldest mir eine Erklärung.« Vielleicht sollte ich mir besser ein Handtuch um die Hüfte binden, ging ihm durch den Kopf.
»Ein Handtuch, ein Handtuch«, murmelte er, wandte sich zum Bett, das wie ein Fremdkörper inmitten der Elektronik stand, zog das Laken unter der platt gewalzten Holoformdecke hervor und legte es sich um wie einen Ganzkörperlatz. »Besser?«
»Etwas«, sagte Xialong, hinter ihren Armen hervorlugend. Argwöhnisch beobachtete sie, wie Kung sich wieder setzte, dann rückte sie vorsichtig näher.
»Also«, sagte Kung.
»Was … also?«
»Vielleicht solltest du dich ebenfalls setzen. Jetzt setz dich schon.«
Sie gehorchte. Ihre Haare waren strähnig, sie hatte dunkle Augenringe, ihr Rock war zerknittert und die Jacke sowieso. Trotzdem machte sie irgendwie den Eindruck, als sähe sie normalerweise ganz anders aus. Als gehörte sie hier nicht her. Plötzlich zeigte sie über seine Schulter hinweg und sagte: »Der elfte Tag?«
Er drehte sich zu dem Monitor mit dem Tibet-Stream um. »Der zwölfte«, sagte er, nicht weil sein Zeitgefühl sich auf einmal wiederhergestellt hatte, sondern weil es rechts unten eingeblendet wurde. Schon erstaunlich, dass die Typen vom FreeVee es schafften, einen nahezu unterbrechungsfreien Stream zu senden.
Xialong nickte, sah auf ihre Hände. »Onkel Wu hat mich geschickt«, sagte sie leise.
»Ah.« Kung nahm eine Wasserflasche vom Tisch und trank. Dann richtete er die Webcam, die seitlich an seinem Monitor klemmte, unauffällig auf seine Besucherin und startete ein Programm.
»Du hast ihm die Fernsehwand eingerichtet.«
»Stimmt.«
»Mit illegalen Sendern.«
»Nicht nur.«
Xialong lächelte zaghaft, das erste Mal. »Onkel Wu hat mir deine Adresse gegeben.«
»Weshalb?«
»Er … er hat gemeint, du könntest mir vielleicht helfen.«
Kung schüttelte den Kopf. Er ahnte, dass dieser Besuch nichts als Ärger bedeutete und dass es am besten wäre, ihn möglichst kurz zu gestalten. Trotzdem sagte er, vielleicht aus Neugier: »Komm drauf an.«
»Worauf kommt es an?«, fragte Xialong. In diesem Moment war die Gesichtserkennung abgeschlossen. Die Infos wurden in einem Fenster angezeigt. Da er den gesamten Datenverkehr verschlüsselt und zerhackt über anonyme Server schickte, hatte die Auswertung einige Zeit gedauert. Das war eines der Zugeständnisse, die man in diesen Zeiten machen musste, wenn man den Sicherheitsbehörden ein Schnippchen schlagen wollte.
Wei Xialong, 28, ledig, Mutter Wei Lanlong, Vater unbekannt, keine Geschwister. Mit Sondergenehmigung zu Hause unterrichtet, dann Besuch der Tsinghua-Universität Beijing, Abschluss in Betriebswirtschaft. Der Mutter gehört der Jiqiren-Konzern, Wei Xialong leitet derzeit den Premiumstore Himmlische Geschöpfe in Beijing, Straße der Goldenen Chrysanthemen.
Die Kurzinfos wurden von ein paar Fotos ergänzt, Aufnahmen von Xialong in unterschiedlichem Alter, beginnend mit der Studienzeit. Keine Kinderbilder, keine peinlichen Partyfotos, kein öffentliches Profil. Das Geschäft war von außen zu sehen, auch ein paar Botmodelle des Mutterkonzerns.
»Wow«, sagte Kung.
»Was, wow?«, fragte Xialong.
»Tut mir leid, ich muss pissen.« Er erhob sich überstürzt und stolperte durch den Durchgang nach nebenan, wo neben einem Regal mit Elektronikteilen, Sachen zum Anziehen und Instantpackungen für den Küchenautomaten auch das Klo und die Dusche untergebracht waren, alles ohne Tür, ohne Vorhang, ohne jede Abteilung. Er bekam kaum Besuch, und noch keiner hatte sich je über einen Mangel an Hygiene oder gar Intimsphäre in seiner Wohnung beschwert. Die Leute, die zu ihm kamen, interessierten sich für andere Dinge. Die junge Frau aber hatte etwas an sich, das ihn seine normalerweise ausgeblendete Wohnrealität mit anderen Augen betrachten ließ. Bei ihm war es nicht nur schmutzig, sondern siffig. Der in die Decke eingelassene Ventilator rasselte, dicke Staubfäden schwankten unter dem Abdeckgitter im Aufwind. Das Ding beförderte die verbrauchte, von den Prozessoren aufgeheizte Luft nach draußen, aber wo kam eigentlich die frische nach? Die Fenster waren versiegelt, Tageslicht und Geräusche störten ihn beim Arbeiten. Genau genommen lebte er im permanenten Unterdruck. Und im Entlüftungsrohr wuchsen