Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke
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Читать онлайн книгу Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke страница 10
Lucius streifte das Hemd über den Kopf. Dann zog er den rechten Strumpf an. Den linken vergaß er, noch während er ihn krempelte. Reglos saß er auf dem kalten Boden, das Hemd um die Schultern, die Arme und alles Weitere nackt, nur das rechte Bein und die rechte Hand jeweils bekleidet mit einem schönen taubenblauen Strumpf. Lucius’ Haar war wirr, seine Miene leer, der Kopf freudlos betrunken vom Wein und vom Träumen. Das gestrige Spiel war vergessen. Ein neues Spiel fiel ihm nicht ein. Und wenn Lucius Lawes kein Spiel einfiel, konnte er sich nicht bewegen.
Allmählich und zunehmend unbehaglich spürte er jenen inwendigen Druck, den er oft empfand, am Morgen vor allem, doch auch sonst in wehrlosen Minuten. Er konnte den Druck nicht benennen; es fühlte sich an, als sei etwas in seinem Körper gefangen, zu viel von etwas, das anschwoll und hinauswollte und den Weg nicht fand. Lucius wünschte, er hätte Brandy, um dieses Gefühl zu betäuben, doch es gab keinen Brandy in dieser Kammer, es gab nur Schwarzpulver und Natron und Soda und Antimon, Lapis Solaris und Lapis Infernalis, Auripigment vielleicht und ein wenig Knallgold, falls noch welches übrig war und nicht schon alles verpufft. Lucius übte sich mitunter in der leuchtenden Chemie. Von Zeit zu Zeit besuchte er eine Sitzung der Royal Society und führte dort Detonationen vor, bebrillt, zerstreut und im mausgrauen Rock. Jetzt stand ihm der Sinn nur nach Brandy. Mühsam zwang er sich aufzustehen. Er fand keinen Brandy. Er fand nur einen Dolch. Den nahm er mit in seine Ecke.
Lucius kannte den Dolch nicht. Er zog ihn aus der Scheide. Er war spitz und scharf, der Griff aus Eisenbändern geflochten wie ein kleiner Käfig, obenauf ein Kreuz. Er sah aus, als gehöre er Sir Lancelot, der damit Bären stach, weil ihm ein Speer zu bequem war. Lucius betrachtete den Dolch lange. Er sah Sir Lancelot reiten durch karstiges Land, ohne Schwert, ohne Rüstung, barhaupt, mit flatterndem Haar, weil er büßte oder prahlte oder vom Wahnsinn geschlagen war, und er hatte nur diesen Dolch, und erst kam ein Wolf, den Sir Lancelot stach, und dann kam ein Eber, den stach er auch, und dann kam ein Bär, ein Drache, ein siebenköpfiger Löwe ... Lucius blinzelte. Er erinnerte sich, der Dolch gehörte dem Schweden, die Herren hatten ihn ihm gestern fortgenommen in Mutter Bushells Hurenhaus.
Dies war das misslungene Spiel. Im Theater mit den Herren, Kleopatra, und ein Handkuss für den König, und dann hinaus in die Nacht. Lucius hatte den Goldrock getragen. Dies war sein Kostüm fürs Theater und für das Spiel namens «die Lustbarkeiten des verwilderten Lords». Er spielte es selten. Es strengte ihn an. Es galt, durch die Stadt zu ziehen, mit den Freunden, die sonst keine Freunde waren, und Unheil anzurichten, wo immer sich die Gelegenheit ergab. Man musste Steine werfen und Leute erschrecken und mancherlei tun, um die Nachtwächter aufzubringen, bis sie einen mit gesenkter Pike verfolgten, und schließlich, bevor man einkehrte und sich sehr betrank, galt es auch stets, ein Opfer zu finden, das die Freunde prügeln konnten aus diesem oder jenem Grund. Lucius im Goldrock spielte hier meistens den Köder. Gestern hatte er sich als gefallenes Mädchen verkleidet, eine neue Maske, die sich gut anfühlte und ihm wohl auch gut stand. Dann hatten die Gentlemen den gefoppten Kunden verbläut. Die Szene war falsch gewesen. Lucius hatte schlecht gespielt. Der Kunde hatte ebenfalls schlecht gespielt. Der Kunde war kein Kunde gewesen, Lucius war keine Hure gewesen, nur die Freunde hatten getan, was im Libretto stand, gelacht, geschlagen, getreten. Ich mag Euch. Lieber Herr. Nennt mich Lucy. «Gottverdammt, süßer Jesus», flüsterte Lucius, «die schwarze Pest soll mich fressen!»
Er drehte den Dolch des Schweden in den Händen. Er strich über die Schärfe. Er befühlte das kleine Kreuz. Ihr habt mein Herz entflammt. So sagt man doch in den Romanen? Lucius berührte die Klinge vorsichtig mit den Lippen. Der Druck in seinem Körper nahm zu. Er könnte nach einem Arzt schicken. Dazu müsste er rufen. Lucius konnte nicht rufen, und er sah auch den Nutzen nicht ein. Der Arzt würde ihm Senneswasser geben und Ratschläge und vielleicht eine Ader schlagen. Er würde Patient sein müssen, um mit dem Arzt zu sprechen. Eben war er kein Patient. Er war gar nichts, nackt und benommen, ein Wesen namens Lucy, das es eigentlich nicht gab. Es vermochte nicht viel, das Wesen namens Lucy. Eine Ader zu schlagen verstand es jedoch wohl.
Lucy fand eine Küvette und trug sie in seine Ecke. Dann löste er den Strumpf von der Rechten und band damit den linken Arm ab. Seine Adern traten schön hervor, oft geschlagene Adern, stets hinlänglich verheilt. Er nahm den Dolch des Schweden, machte einen Schnitt und lockerte langsam die Stauung.
Er blutete gut. Die Schleuse war geöffnet, das Wasser konnte zu Tal, das Gefangene ging frei davon und musste nicht mehr drücken. Lucy legte den Kopf schief und sah seinem Blut zu, wie es in die Küvette floss, gleichmäßig und friedlich und ohne einen Laut. Er wurde matt und weich. Der Druck schwand, und die Träume der Nacht und der Wunsch nach der schwarzen Pest. Er ließ sich gründlich zur Ader. Bald fielen seine Augen zu. Er sah Sir Lancelot reiten, er sah grüne Wiesen, er hörte den Schweden, Lucy, du bist ein gutes Kind, und dann sah er den Schweden, seine Hände so freundlich in Lucys Haar, und er hörte ihn wiederum reden, du hast einen Wirrkopf, mein Kind, und abermals, ganz leise, Missgeburt, Wechselbalg, Monstrum, und all dies waren nur Kosenamen, wenn das Blut so tröstlich floss, und Sir Lancelot ritt, eine Dame vor sich im Sattel, Ihr entflammt mein Herz, schöne Lady, sagte Sir Lancelot und ritt über die Wiesen von Cheshire.
Irgendwann griff Lucy traumverloren in seine Wunde und drückte die Ader ab. Dann nahm er den linken Strumpf und verband sich. Einen Augenblick gab er sich noch, still in die Ecke geschmiegt; dann zog er das Hemd an und den rechten Strumpf aus, nahm den Dolch und stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hielt sich an der Wand. Der Dolch war blutig, er wischte ihn ab, er wollte ihn behalten.
«In guardia», flüsterte Lucy. Lord Fearnall begann seinen Tag und schrie aus vollem Hals nach seinen Dienern.
Lucius Lawes trank eine Tasse Schokolade und ein Glas Brandy, dann legte er sein Muttergottesamulett um, schwärzte seine Brauen mit Kohle, wählte eine dunkle Perücke und einen altmodischen schwarzen Rock von annähernd spanischer Machart und fuhr, wie jeden Sonntag, mit der Mietkutsche zur katholischen Messe.
Erst vor kurzem, als in London die Rede ging, die Jesuiten wollten dem König ans Leben, war Lord Fearnall heimlich konvertiert. Nun war er Papist und schloss in der Kutsche eigenhändig die Fensterläden, wie es sich schickte für eine solche Reise. Sein Ziel lag in Southwark, jenseits der Themse. Dort sah es aus, als wüte noch immer die Pest. Es gab genügend katholische Messen in London, aber keine schätzte Lucius so wie diese. Sie erinnerte ihn an das Schafott, das die Whigs wohl in Kürze für die Papisten aufrichten würden, einen riesigen Galgen mitten im Tower, wo die Verurteilten störrisch das Sanctus sängen, bis ihnen der Strick den Atem nahm. Lucius mochte diese Vorstellung und schmückte sie immer weiter aus. Damit vertrieb er sich die Zeit, wenn er im spanischen Wams nach Southwark fuhr, die silberne Schmerzensmutter kühl auf der bloßen Haut.
Bis zur London Bridge träumte er vom Martertod. Über dem Wasser verblasste dieses Bild. Am Südufer stimmte er sich ein auf die Pracht des Christe eleison, während der Kutscher, wie geheißen,