Hemmungslos. Hugo Bettauer

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Hemmungslos - Hugo Bettauer

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selben Abend zog sich Kolo Isbaregg mit Herrn Geiger nach Tisch in eine Ecke zurück und sagte ganz leichthin:

      „Ich habe heute durch meinen Vetter, den Unterstaatssekretär im Finanzdepartement, etwas erfahren, was auch Sie interessieren dürfte. Natürlich kann ich Ihnen, wenn ich meinem Vetter nicht Ungelegenheiten bereiten will, die Sache nur sehr vertraulich mitteilen. Es steht nämlich die Vermögensabgabe unmittelbar bevor und in den nächsten Tagen schon wird wieder eine allgemeine Bankkonto- und Safe-Sperre verfügt werden.“

      Geiger wurde ganz zitterig und nervös, der Speichel trat ihm in den Mund und geifernd fragte er:

      „Ist das auch ganz sicher, was Sie da sagen?“

      „Herr, ich bin ja kein dummer Junge! Wenn ich etwas sage, so weiß ich, was ich rede! Übrigens müssen Sie es ja nicht glauben!“

      „Gut, gut,“ begütigte der Alte. „Natürlich glaube ich es, ich muß es um so eher glauben, als ja die Finanzen dieses gottverlassenen Staates so sind, daß irgend ein neuer Gewaltstreich wirklich unausbleiblich ist.“ Und dann mit trockenem Lachen: „Wieder ein Glück, wenn man nichts hat! Mir wird man nichts mehr wegnehmen können.“

      Geiger blieb aber verstimmt und einsilbig und begab sich frühzeitig auf sein Zimmer, während Kolo sich den Damen zuwendete und durch sein bestrickend liebenswürdiges Wesen Gluten um sich her verbreitete. Zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung ließ aber Frau Albari ihre Schlafzimmertür diesmals vergebens offen.

      IV. Kapitel

      Am nächsten Morgen frühstückte Kolo Isbaregg sehr frühzeitig und begab sich dann nervös und erregter, als er sich es hätte eingestehen wollen, in das im selben Haus befindliche Café, wo er einen Fensterplatz wählte. Nicht lange blätterte er in den Zeitungen herum, als Herr Geiger, eine umfangreiche Aktentasche in der Hand, das Haustor verließ. Kolo, der schon gezahlt hatte, lächelte selbstsicher vor sich hin und folgte dem gebückt einherschreitenden Mann in angemessener Entfernung. Bei der Oper zögerte Geiger, trat an einen Chauffeur heran, es enspann sich ein Zwiegespräch, das damit endete, daß der Geizhals erbost und ersichtlich zornentbrannt weiter zu Fuß die Kärntnerstraße entlang schritt, Isbaregg immer hinter ihm her. Im Gebäude des Bankvereins verschwand Geiger und Kolo konnte nun eine ganze Stunde lang ungeduldig auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab schreiten, bevor der alte Mann endlich wieder erschien. Jetzt war die Aktentasche zum Bersten voll, der Alte preßte sie förmlich inbrünstig an sich und bestieg diesmal ohne Pourparlers ein Auto.

      Kolo wußte genug, es war so gekommen, wie er vorausgesehen: Geiger hatte, von Panik über die kommende neue Vermögensabgabe ergriffen, sein Depot behoben, etwaige Aktien in Bargeld umgetauscht und würde nun den Betrag zu Hause verbergen.

      Isbaregg hatte nun allerlei Besorgungen zu machen. Er begab sich nach einer stillen Seitengasse der Kärntnerstraße zu einem Schuster, dessen Spezialität orthopädische Schuhe waren, und bestellte mit schnarrender, norddeutscher Aussprache ein Paar Stiefel für seinen Bruder, Nr. 43 Länge, 5 Breite. Der rechte Schuh müsse einer Verkürzung des Beines halber drei Zentimeter höher sein als normal. „Postarbeit, bitte, spätestens übermorgen brauche ich die Schuhe, weil ich sie dann sofort wegschicken muß.“ Er erlegte sofort eine Anzahlung und kaufte in einem Gummigeschäft einen Pfropfen für einen Spazierstock, wie ihn Hinkende zu benützen pflegen. Dann begab er sich nach der Elisabethstraße, wo er den Laden eines Theaterfriseurs betrat. Dort verlangte er für das Kostümfest, das demnächst im Stadtpark stattfinden sollte, einen schwarzen Knebelbart. In einem Farbwarengeschäft erstand er eine Tube schwarzer flüssiger Farbe, bei einem Optiker eine schwarze Brille, bei Gerngroß einen mächtigen schwarzen Schlapphut, wie man ihn kaum noch trug, und einen dünnen Wettermantel mit einer Pelerine.

      Mit Paketen beladen, begab sich Kolo nach Hause, ging aber gleich wieder fort und studierte in einem Haustor die Annoncen des „Neuen Wiener Tagblattes“, aus dem er sich mehrere Adressen aufnotierte. Eine halbe Stunde später hatte er in der Apfelgasse, also in nächster Nähe des Schwarzenbergplatzes, ein diskretes Absteigequartier mit separatem Eingang von der Treppe aus auf vierzehn Tage gemietet und vorausbezahlt. Da solche Absteigequartiere nur für galante Stunden vermietet werden, frägt man nicht nach dem Namen, sondern begnügt sich, den Mieter mit Herr Doktor anzureden. Er nahm den Zimmerschlüssel an sich, versicherte, daß er das Zimmer nur selten und immer auf ganz kurze Zeit benützen würde, und hatte die Gewißheit, daß die wackere Zimmervermieterin diskret und froh sei, wenn sie mit ihrem jeweiligen Herrn nichts weiter zu tun habe.

      Zwei Tage später erzählte Frau Dr. Schlüter abends ihren Gästen, daß ein neuer und recht interessanter Herr bei ihr eingezogen sei. „Ein Spanier in diplomatischen Diensten. Er spricht kein Wort deutsch, aber natürlich vollkommen französisch. Er heißt Doktor Diego Alvarez und macht einen höchst distinguierten Eindruck. Morgen zieht er schon hier ein, wird aber erst nach einer Woche mit uns speisen, da er vorläufig in der Familie des spanischen Botschafters Tischgast ist.“

      Fräulein Holthaus schrie entzückt auf: „Ein Spanier, Gott, wie interessant!“ Während Frau Albari unter allgemeiner Spannung fragte, ob dieser Spanier ein so schöner Mann sei, wie man es von Spaniern vorauszusetzen pflege. Wobei sie Kolo einen koketten Blick zuwarf. Lachend erklärte Frau Dr. Schlüter:

      „Nun, da müssen Sie Ihre Erwartungen schon herabstimmen! Er hat einen schwarzen, abscheulichen Knebelbart, dunkle Brillen, trägt einen unmöglichen Kalabreser und hinkt außerdem recht heftig.“

      „Der Arme!“ seufzte die Stillebenmalerin und nahm sich vor, gegen den unglücklichen Krüppel recht sanft und zuvorkommend zu sein, während Herr Holthaus, der erotische Sezessionist, trocken meinte:

      „ Solche Leute pflegen Glück bei Frauen zu haben. Merkwürdigerweise löst Krüppelhaftigkeit bei hysterischen Weibern starke erotische Reizungen ...“

      Frau Dr. Schlüter räusperte sich energisch mit einem Blick auf einen Backfisch, der bedenklich zu kichern begann, und lenkte das Gespräch auf die allgemeine Ernährungslage. Von da an sprach man nicht mehr von dem Spanier, der mit einem umfangreichen Handkoffer seinen Einzug hielt und vorläufig nur morgens und abends beim Verlassen und Kommen, aber auch dann nicht regelmäßig, vom Stubenmädchen gesehen wurde.

      V. Kapitel

      So waren etwa acht Tage vergangen, die Pfingstwoche war gekommen und der Spanier sagte abends, als er nach Hause kam, der Frau Dr. Schlüter, er werde über die Feiertage nach dem Semmering fahren, und zwar schon morgen mit dem ersten Frühzug, eine Mitteilung, die weiter nicht aufregend war. Kolo Isbaregg blieb wie immer, wenn er keinen Bummel vorhatte, bis gegen Mitternacht im Salon, war scheinbar heiter und aufgeräumt wie gewöhnlich und zog sich dann, als alles schlafen ging, auf sein Zimmer zurück. Hier legte er sich auf den Diwan und dachte, indem er sich zu eiserner Ruhe zwang, logisch, klar und scharf über all das nach, was die nächsten Stunden bringen mußten.

      Um zwei Uhr morgens — das ganze Haus lag im tiefsten Schlaf — zog er die Schuhe aus, steckte ein Universalwerkzeug aus Nickel in kleinem Format, das er noch aus Kanada her besaß, zu sich, zog den Krummhaken hervor, mit dem auch gute Schlösser leicht aufzusperren sind, wenn man, wie er, damit umgehen konnte, und öffnete seine schon am Tage vorher eingeölte Tür, die nach dem Korridor führte.

      Totenstille, nichts regte sich, er konnte fast das Klopfen des eigenen Herzens hören. Ein paar Schritte nur und er stand vor der Tür des Herrn Geiger. Er preßte das Ohr an das Schlüsselloch und hörte das Schnarchen des alten Mannes. Nun vorsichtig, den Krummhaken angesetzt. Halt! Ein Widerstand! Verflucht! Der Schlüssel steckt ja von innen! Kolo verlor nur einen Augenblick die Fassung, dann zog er aus dem zusammengeklappten Werkzeug eine lange Nadel, wie man sie zum

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