Helmut Kohl. Ein Prinzip. Alexander Gauland
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Alexander Gauland
HELMUT KOHL
EIN PRINZIP
INHALT
Vorbemerkung: Über historische Größe
Nachbetrachtung: Der »weltläufig gewordene Provinzler«
Nachwort: Ein Vierteljahrhundert später
Vorwort
Warum über Helmut Kohl schreiben? Seine Persönlichkeit fasziniert nicht. Er hat nichts von der aristokratischen Nonchalance eines Fox, dem romantischen Dandyismus eines Disraeli oder der herrischen Genialität eines Bismarck. In Helmut Kohl ist nichts Hintergründiges, wie es uns in Walther Rathenau entgegentritt, und er ist kein Ästhet der Macht, wie Richelieu einer war. Friedrichs Abgründe sind ihm so fremd wie die glanzvolle Intellektualität eines Winston Churchill. Niemand käme auf den Gedanken, Helmut Kohl an jenem Begriff von historischer Größe zu messen, den Jacob Burckhardt vorgegeben hat: Größe ist, was wir nicht sind. Helmut Kohl, so konnte man kürzlich lesen, ist ein Serienheld. »Nie ist der Auftritt spektakulär, nie zeigt sich ein Faszinosum, das unwiederholbar in den Bann schlägt, er erleidet kleine Niederlagen und feiert keine ganz großen Siege.«1
Warum also über Helmut Kohl schreiben? Weil es dennoch etwas Unerklärliches und damit auch wieder Faszinierendes in seiner politischen Karriere gibt, den Mangel an gerechter, oder sagen wir besser distanzierter Beurteilung. Helmut Kohl ist der Bundeskanzler der Wiedervereinigung, doch anders als Bismarck hat man ihm dafür keine Denkmäler errichtet. Der »eiserne Kanzler« wurde von seinem dankbaren Souverän gefürstet und von den Deutschen als Bilderbuchheld verehrt; Helmut Kohl hingegen muß fürchten, von den Wählern in Ungnaden entlassen zu werden. Zu diesem Befund gesellt sich eine weitere Beobachtung: Es gibt – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – keine vorurteilsfreie Betrachtung seines Wirkens. Helmut Kohl ist über zwanzig Jahre CDU-Vorsitzender und seit mehr als elf Jahren Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Gewiß hat es im Laufe dieser Jahre kluge Einzelbeobachtungen sowie manch interessanten Essay über Aspekte seiner Arbeit gegeben, doch eine distanzierte Zusammenschau fehlt. Seine Biographen haben Helmut Kohl entweder als linkischen Dummkopf oder als Staatsmann ohne Fehl und Tadel porträtiert. So schwankt sein Charakterbild in der Publizistik zwischen einem zweiten Bismarck und jenem unseligen Lord Goderich, der nach Cannings plötzlichem Tod für ein halbes Jahr die Geschicke Englands bestimmte und der als einzigartig unfähiger Premierminister in die Geschichte seines Landes eingegangen ist. Disraelis Urteil, daß ihm alle Führungseigenschaften fehlten, ist wieder und wieder auch über Helmut Kohl gefällt und mehr als einmal von eigenen Parteifreunden behauptet worden. Für diese Unausgeglichenheit des Urteils muß es Gründe geben, objektive wie subjektive. Ihnen nachzuspüren ist Aufgabe dieses Buches. Daß dabei der Arbeitsplatz des Politikers Helmut Kohl, die alte wie die neue Bundesrepublik, in die Betrachtung einbezogen werden muß, versteht sich von selbst. Der Ausgang, was Karriere, Schicksal und Erfolg Helmut Kohls angeht, muß notwendigerweise offenbleiben, weshalb die Schlußkapitel sich den objektiven Faktoren widmen, mit denen dieser Bundeskanzler oder ein anderer rechnen muß. Daß dabei vieles Meinen, Glauben, Fürchten oder Hoffen ist, kann wohl nicht anders sein in einer Zeitenwende, in der nichts mehr sicher ist und alles neu bedacht werden muß.
Berlin, im Mai 1994
Vorbemerkung: Über historische Größe
Historische Größe ist ein schillernder Begriff. Sie fügt sich zusammen aus subjektiven und objektiven Faktoren. Daß Helmut Kohl subjektiv nichts Faszinierendes besitzt, wird niemand bestreiten wollen. Auch mangelt es ihm an einer Lebensgeschichte voller Brüche, die Figuren wie Willy Brandt und Herbert Wehner interessant macht. Doch wie steht es mit dem objektiven Kriterium der Unersetzlichkeit, das für Jacob Burckhardt das entscheidende ist?
Johannes Gross hat in seiner Betrachtung über die Größe des Staatsmannes im Nachgang zu Joachim Fests Hitler2 die These vertreten, daß in einer bipolaren Welt, über der das Damoklesschwert der atomaren Vernichtung schwebt, die Handlungsspielräume so klein geworden seien, daß kein Raum mehr für die historische Größe des handelnden Staatsmannes bleibe. Er stellt die letzten großen Täter Lenin, Hitler, Stalin, Roosevelt und Churchill den Truman, Eisenhower, Johnson und Breschnew gegenüber und erklärt deren Mediokrität zum strukturellen Problem. Hieße das im Umkehrschluß, daß nach dem Untergang dieser Ordnung wieder Platz für den großen Staatsmann ist, daß Gorbatschow, Bush und auch Kohl die Chance zu historischer Größe haben? Für Johannes Gross wohl nicht, denn er definiert Unersetzlichkeit in einer Weise, die schon Churchill scheitern läßt. Wenn die Geschichte Englands 1940 auch ohne Churchill nicht anders verlaufen wäre als mit ihm, dann in der Tat bleibt Größe für niemanden, nachdem Lenins Werk untergegangen ist und Hitler wie Stalin zu den »bloß kräftigen Ruinierern« zu zählen sind.
Auch für Stalin gilt nun, was Jacob Burckhardt Timur ins Stammbuch geschrieben hat: »Timur hat die Mongolen nicht gefördert, nach ihm war es schlimmer als vorher; er ist so klein, als Dschingis Khan groß ist.«3
Doch zurück zur Unersetzlichkeit: Wäre der Gang der Geschichte ohne Churchill nicht doch ein anderer gewesen? Wissen wir nicht, daß es viele in seiner Partei wie in England gab, die mit Hitler teilen wollten? Hing die Entscheidung, wer Premierminister werden sollte, nicht am seidenen Faden und hätte Halifax die Kraft und die Bedenkenlosigkeit aufgebracht, die Churchills aristokratisches Erbe war? Nur ein Mann wie er war der flackernden Genialität des wurzellosen Kleinbürgers gewachsen. Für Churchill war alles einfach. Hier war das protestantische England