Entstellt. Amanda Leduc
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In Krankheit als Metapher stellt Susan Sontag fest, dass »[d]ie modernen totalitären Bewegungen […] besonders – und in enthüllender Weise – geneigt [waren], Bilder aus dem Bereich der Krankheit zu gebrauchen«. So twitterte Donald Trump am 19. Juni 2018, die Demokraten »wollen, dass illegale Einwanderer, wie böse sie auch sein mögen, unser Land überfluten und es infizieren, wie die MS-13« (Hervorhebung von mir). So sprach David Ward, ein ehemaliger Beamter der US-Einwanderungsbehörde, im Oktober 2018 auf Fox News von Migrant*innen, die Krankheiten »wie Pocken und Lepra und [Tuberkulose] mitbringen, mit denen sie unsere Leute in den Vereinigten Staaten infizieren«. Bei dieser sehr konkreten Form des Geschichtenerzählens fokussiert die Angstmacherei insbesondere auf den Aspekt der Krankheit – und im weiteren Sinne auch der Behinderung – als etwas, das Außenstehende zu Anderen macht, sie othert. Um die Krankheiten zu vermeiden, müssen wir auch die Menschen meiden, die leiden. Denn niemand will anders sein, auch nicht gedanklich. So dient das Geschichtenerzählen – die Herrschaft über das Wort – der fortgesetzten Entrechtung derjenigen, die sowieso schon rechtlos sind, es mindert ihre Erfolgschancen noch weiter und sichert damit den anhaltenden Erfolg einiger weniger.
Anders ausgedrückt: Das medizinische Modell zelebriert den Triumph des Individuums über die Behinderung, das soziale Modell die kollektive Macht und Verantwortung der Gesellschaft, die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen und Behinderung in unsere Welt zu integrieren.
(Es sei noch angemerkt, dass das soziale Modell nicht unumstritten ist. Insbesondere weisen jüngere Kritiken darauf hin, dass es nicht immer möglich ist, die soziale Umgebung so zu verbessern, dass alle Aspekte einer Behinderung berücksichtigt und aufgefangen werden. Rampen mögen einer*m Rollstuhlnutzer*in den Zugang zu einem Geschäft ermöglichen, doch barrierefreie Zugänge und Toiletten lindern keine Schmerzen oder Müdigkeit. Die Forderung nach einem gesellschaftlichen Wandel kann daher auch dazu führen, dass Menschen, die vielleicht gerne über ihre Schmerzen oder andere Schwierigkeiten sprechen würden, es nicht tun, weil sie befürchten, dass man es ihnen als Widerspruch zum sozialen Modell auslegt.)
Behinderte Menschen waren, wie andere marginalisierte Gruppen auch, lange die Hauptobjekte abwertender Narrative. Auch deshalb bietet das Aufkommen der Sozialen Medien eine so machtvolle Chance. Indem wir als behinderte Menschen den Raum für unsere eigenen Geschichten einfordern, indem wir für das soziale Modell von Behinderung und dessen verschiedene Weltsichten eintreten, erobern wir uns die Kontrolle über das Narrativ zurück und zwingen die Welt, nicht nur das Konzept des individuellen Triumphs zu hinterfragen, sondern auch die Narrative, die seit Tausenden von Jahren über behinderte Menschen erzählt werden.
Und doch reichen diese Narrative viel tiefer, als uns bewusst ist. Wie die Dornenranken, die Dornröschens Schloss im Disney-Film überwuchern, haben sie ihre knorrigen Wurzeln tief in unterirdische Pfade geschlagen. Um zu verstehen, wie das medizinische und soziale Modell von Behinderung in unserem Alltag wirken und wie diese Modelle und Denkmuster Staaten auf sozialer, politischer und struktureller Ebene leiten, müssen wir auch verstehen, wie die überlieferten Erzählungen dazu beigetragen haben, die Vorstellung vom behinderten Anderen bestenfalls als Objekt von Mitleid und schlimmstenfalls als unsichtbarer Irgendjemand, kaum Vorhandener, zu etablieren.
In Care Work untersucht der*die Behindertenaktivist*in Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha den Aufstieg der Behindertenrechtsbewegung in Hinblick auf die spezifischen Belange und Erfahrungen Schwarzer, PoC und queerer Behindertenpolitiken. Anhand von Narrativen behinderter BIPoC, die Gewalt und Missbrauch erlebt haben, geht Piepzna-Samarasinha einer Frage nach, die in den meisten uns bekannten Märchen herumspukt, nämlich ob es wirklich nur zwei Möglichkeiten gibt, wie eine Geschichte enden kann. »Etwas Unheimliches und Unergründliches geht im Schlafzimmer vor sich. Erst ist alles DUNKEL, dann geht die Sonne auf, du machst sechs Therapiesitzungen in einer freundlichen Praxis, und schon bist du geheilt. Du heiratest deinen Mann oder findest eine Freundin und bekommst ein Kind, dann ist alles nur noch in sanftes Licht und Pastellfarben getaucht, für immer und ewig, Ende. Entweder das – oder du bist am Arsch: Du misshandelst deine Kinder und stirbst einen grausamen Tod. Das sind die beiden Möglichkeiten, die die Leute im Hinterkopf haben.«
Diese beiden Optionen in unseren Köpfen – entweder glücklich bis ans Ende aller Tage oder schreckliches Leid bis zum Tod – gehen auf die Geschichten zurück, die uns als Kindern erzählt wurden. Happy Ends sind deshalb so glücklich, weil sie keinerlei Dunkelheit enthalten – umgekehrt sind unglückliche Enden unglücklich aufgrund der völligen Abwesenheit von Freude und Licht.
Für viele nichtbehinderte Menschen heutzutage ist die Vorstellung von Behinderung in Dunkelheit gehüllt. Sie finden es unvorstellbar, dass jemand behindert und gleichzeitig glücklich sein kann, weil sie aus Büchern, Filmen, Fernsehen, Musik und Geschichten wissen, dass Behinderung ein Nachteil ist: dass der behinderte Körper ein geringerer ist, ein Körper, der nicht so funktionieren kann wie die anderen. Behindert zu sein heißt zu leiden; körperlich und psychisch, emotional und spirituell – und was kann daran gut sein? Welches Happy End kann es angesichts von andauerndem Leid geben?
(Gleichzeitig gehört dazu die oft nachgebetete oberflächliche Wahrheit: dass wir alle Individuen, dass wir alle unterschiedlich sind. Natürlich besteht das Leben nicht nur aus Happy Ends, sagt die Gesellschaft – während sie gleichzeitig Glück und Freude verehrt und vor Mühe und Schmerz zurückscheut. Natürlich glaubt die Welt auf intellektueller, theoretischer Ebene, dass es möglich ist, behindert und glücklich zu sein – bis sie mit der konkreten Komplexität des behinderten Körpers konfrontiert wird. Natürlich kann die Gesellschaft wachsen und sich so verändern, dass sie alle unterschiedlichen Körper berücksichtigt – bis diese anderen Körper als unvernünftig, anstrengend oder eine Spezialbehandlung fordernd erscheinen. Dann verfällt sie wieder in den Ableismus, der unseren Geschichten seit Jahrhunderten zugrunde liegt, und beschwert sich lauthals, das ist ungerecht!
Es ist ungerecht, dass behinderte Menschen eine Extrawurst bekommen. Es ist ungerecht, dass behinderte Menschen bessere Parkplätze und Ermäßigungen bekommen, dass sie ihre Begleithunde mit ins Restaurant nehmen dürfen. Es ist ungerecht, dass behinderte Menschen zu Hause bleiben können, während die anderen arbeiten müssen!)
Die Gegenüberstellung von medizinischem und sozialem Modell von Behinderung funktioniert oft auch im Sinne der Dichotomie glücklich/unglücklich, wobei die Entscheidung, welches Modell für das Happy End steht, Ansichtssache ist: Für Befürworter*innen des medizinischen Modells ist ein Leben mit Behinderung unglücklich, weil die Medizin Abhilfe schaffen könnte; Befürworter*innen des sozialen Modells betrachten die Aussicht auf Heilung als unglücklich, weil es die Gesellschaft nicht nur von der Verantwortung entbindet, die Umgebung insgesamt zu verbessern, und stattdessen dem Individuum die Pflicht zur Veränderung auferlegt, sondern auch, weil sie die körperlichen Unterschiede und die damit einhergehenden Erinnerungen auslöscht, die die Welterfahrung von behinderten Menschen oft prägen.
Wer wäre ich, zum Beispiel, wenn ich nicht mit der Zyste im Gehirn geboren worden wäre? Meine Erfahrungen im Krankenhaus, die Operationen, mein Leben mit Rollstuhl und Gehhilfen, mein Hinken und das damit zusammenhängende Mobbing – all das hat mich geprägt. Ohne die Zyste hätte ich heute ein anderes Leben. Ich wäre nicht die, die ich heute bin.
In Disability Theory entwickelt Siebers eine Theorie, die er complex embodiment (komplexe Verkörperung) nennt, wonach Elemente sowohl des medizinischen als auch des sozialen Modells den Weg