Entstellt. Amanda Leduc

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Entstellt - Amanda Leduc

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Modell insofern, als die behinderte Person als defizitär angesehen wird – als jemand mit einem weniger perfekten, einem entstellten Körper, der*die durch diese Unterschiede von der Gesellschaft abgesondert ist. In beiden Fällen ist die behinderte Person von anderen abhängig: im medizinischen Modell von der medizinischen Expertise, die (Ab-)Hilfe verspricht; im Wohltätigkeitsmodell von medizinischen und sozialen Einrichtungen, die die bemitleidenswerte behinderte Person retten wollen. Die medizinische Welt heilt den Körper, während die soziale Welt das Leben der behinderten Person durch Wohltätigkeit und großherzige gute Taten verbessert.

      Das Wohltätigkeitsmodell, stellt das Online-Portal Disability World fest, »sieht behinderte Menschen als Opfer ihrer Umstände, die Mitleid verdienen«. Das Modell entspringt der altehrwürdigen Tradition von ›Adel verpflichtet‹ (in der die Vermögenden die Pflicht haben, einen Teil ihres Reichtums zum Wohl der Gesellschaft zurückzugeben), doch anstelle der Reichen, die den Armen geben, lassen sich hier die Nichtbehinderten herab, den behinderten Menschen zu helfen. Wenngleich der Gedanke der Wohltätigkeit zunächst erstrebenswert scheint – schließlich ist ein*e Philanthrop*in unweigerlich eine moralisch akzeptablere Figur als Ebenezer Scrooge –, ist dennoch einzuwenden, dass Wohltätigkeit auch dem Erhalt bestehender sozialer Strukturen dient. Solange Einzelpersonen und Wohltätigkeitsorganisationen die Benachteiligten mit milden Gaben bedenken, besteht keine Notwendigkeit für einen umfassenden sozialen Wandel, der die Hierarchien ebenso wie die ökonomische und strukturelle Ungleichheit abschafft, die die Menschen überhaupt erst benachteiligt. Im Grunde trägt Wohltätigkeit, indem sie die Sorge für die Mitmenschen zu einer aktiven Entscheidung anstatt zu einer Verpflichtung macht, also dazu bei, Armut und Ungerechtigkeit aufrechtzuerhalten.

      (Ich argumentiere hier natürlich nicht gegen die Existenz von Wohltätigkeitsorganisationen – bestimmt können sie wunderbare Dinge bewirken und tun es auch. Es ist richtig, dass die Menschen darüber nachdenken, wie sie der Welt, und insbesondere den weniger Begünstigten, etwas geben können. Es geht mir vielmehr darum, dass wir die Gründe für deren Benachteiligung nicht mehr in bestimmten Umständen – etwa einer Behinderung – suchen, sondern anerkennen sollten, dass sie das Ergebnis struktureller Ungerechtigkeit sind, die die »Begünstigten« aufrechterhalten, auch wenn sie noch so viel Geld spenden.)

      In Krankheit als Metapher bemerkt Susan Sontag, dass Krankheit oft mit moralischem Fehlverhalten in Verbindung gebracht wird.

      Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdienen. […] Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen – da diese Bedeutung unausweichlich eine moralische ist.

      In der Literatur gilt das Gleiche oft auch für Behinderung. So wie Betroffene einer Krankheit zum Sinnbild für die Leiden der Krankheit selbst werden (vgl. Tuberkulose, Krebs, Aids), werden behinderte Menschen zum Sinnbild von Verlust und Mühsal, dafür, dass die Welt nicht gnädig ist zu denen, die anders sind. In der gleichen Weise, in der Krankheit bei Sontag zur Metapher wird – etwas ist ein Krebsgeschwür, verbreitet sich wie die Pest –, dient Behinderung oft der Verkörperung uralter und dennoch aktueller, drängender Ängste: vor dem Verlust der Unabhängigkeit, vor sozialer Ausgrenzung, vor Einsamkeit in einer zunehmend vernetzten Welt.

      Und so wie das medizinische Modell die Schuld an der Behinderung im Körper der behinderten Person sucht und Mediziner*innen zu »Expert*innen« erhebt, wie das Wohltätigkeitsmodell den großherzigen Philanthrop*innen die Schuld an der Gesellschaft abnimmt und hierarchische Normen stärkt, nehmen psychologische Krankheitstheorien der Gesellschaft die Schuld und Verantwortung für die Krankheit ab und schieben sie den Betroffenen zu. Wenn sie nur dieses oder jenes unterlassen oder anderes getan hätten, wenn sie demütiger oder gläubiger gewesen wären, hätte die Krankheit vielleicht vermieden werden können. (Im neunzehnten und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts glaubte man in manchen Kreisen, dass melancholische Patient*innen Krebs hätten vermeiden können, wenn sie nur glücklicher gewesen wären; im achtzehnten Jahrhundert dachte man von zarten, nervösen und leicht erregbaren Menschen, dass sie durch eine ruhigere, stillere Lebensführung von der Tuberkulose verschont geblieben wären.)

      Dieses Denken mag uns heute lächerlich erscheinen – doch in Bezug auf Behinderung wirkt es oft weiter, wenn auch in subtilerer (und möglicherweise schädigenderer) Form. Noch immer werden behinderte Menschen zu Wunderheiler*innen gebracht, es wird ihnen geraten, mehr Wasser oder mehr grünen Tee zu trinken, es mit Entgiftung oder Hypnose zu versuchen, um psychische Blockaden abzubauen und ihre körperlichen Beeinträchtigungen zu überwinden. Man ermutigt sie, »durchzuhalten«, »sich zu bewegen«, und erinnert immer wieder daran, dass die einzige Behinderung eine falsche Einstellung ist.

      Und wenn behinderte Menschen es schaffen, auf die Weise »durchzuhalten«, die die nichtbehinderte Gesellschaft für richtig hält, sind sie ein Vorbild für alle anderen, weil sie sich durch ihre körperlichen Einschränkungen nicht haben »fesseln« lassen, ganz so, wie man von Menschen als an den Rollstuhl »gefesselt« spricht.

      Sieh nur, was du geschafft hast, sagt die Gesellschaft. Du bist wirklich inspirierend.

      Inspirationsporno, so nannte es die verstorbene australische Behindertenaktivistin Stella Young, wenn behinderte Menschen wegen ihrer Behinderung als inspirierend dargestellt werden. Inspirationsporno geht einher mit der Vorstellung des behinderten Körpers als geringerem. Wenn ein behinderter Körper geringer ist, dann ist auch das, was er erreichen kann, geringer – und paradoxerweise zugleich mehr: schwieriger, edler, besonderer.

      In einem Artikel für Bustle aus dem Jahr 2019 erinnert sich Imani Barbarin an ihre Ballettstunden als Siebenjährige. »Ich wollte Kunst machen«, schreibt sie, »aber die Lehrer*innen wollten nur, dass ich gesehen werde. Ich wollte Herausforderungen, doch niemand fordert die heraus, die bereits mit ›Herausforderungen‹ geboren wurden.« So wird aus dem Weniger des behinderten Körpers in den Augen der nichtbehinderten Welt ein Mehr. Der behinderte Körper kann nicht die gleichen Anforderungen erfüllen wie der nichtbehinderte, also senkt man die Anforderung. Wenn die behinderte Person dann diese neue, geringere Anforderung erfüllt, wird sie bejubelt und beglückwünscht.

      Du willst tanzen, aber du hast eine Zerebralparese und wirst nie eine Primaballerina sein. Anstatt dass du also einen Tanz erfinden darfst, der auf die Bedürfnisse deines eigenen Körpers abgestimmt ist, bekommst du einen symbolischen Auftritt und sollst dich freuen, dass du immerhin das geschafft hast.

      Toll, wie du diese viel niedrigere Anforderung erfüllt hast. Toll, dass du versuchst, wie die nichtbehinderten Menschen zu sein. Das ist mehr als genug – das ist inspirierend.

      Wie beim Wohltätigkeitsmodell von Behinderung verlagern psychologische Ansätze die Schuld von der Gesellschaft auf das Individuum: Behinderung ist somit keine gelebte, alltägliche Realität, sondern nur eine vorübergehende Komplikation, die mit genügend innerer und äußerer Stärke überwunden werden kann. (Diejenigen, die ihre Behinderungen nicht »überwinden« – oder sich über die sogenannten »Erfolge«, die sie dank der extra für sie gesenkten Anforderungen erbracht haben, nicht freuen wollen –, sind folglich einfach nicht stark genug oder haben sich nicht genügend angestrengt.)

      Deine Behinderung verursacht dir Schmerzen? Versuch es mit Yoga. Du hast psychische Probleme? Meditieren hilft. Je mehr du dich konzentrierst, desto besser geht es dir, und desto weniger muss sich die Gesellschaft um besondere Tanzstunden oder Barrierefreiheit kümmern, um eigens ausgewiesene Parkplätze, ganz zu schweigen von Untertiteln, Gebärdenübersetzungen oder Rückzugsräumen.

      Schließlich musste sich das Königreich für das Mädchen ohne Hände auch nicht ändern, oder? Sie bekam ihre Hände zurück, dank ihres Glaubens. (Die einzige

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