Entstellt. Amanda Leduc

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Entstellt - Amanda Leduc

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weltweiten Varianten über viertausend Jahre zurückverfolgen.

      Im Grunde erzählen wir einander Geschichten, seit wir sprechen können. Das Genre Märchen mag eine relativ junge Entwicklung sein, doch es ist eine Art von Erzählung, die es in unterschiedlichen Formen von Anbeginn der Zeit gegeben hat.

      Genauer gesagt haben wir diese Erzählweise benutzt, um das zu beschreiben, was anders ist. Ob diese Andersartigkeit in einer Entstellung begründet ist oder in sozialer Ausgrenzung: Märchen drehen sich oft in irgendeiner Weise um Protagonist*innen, die sich vom Rest der Welt unterscheiden.

      »Der Zweck von Geschichten«, stellt der Amerikanist und Disability-Forscher David T. Mitchell fest, »ist, das zu erklären, was aus der Reihe fällt. Das Begreifen von Unterschieden zwischen Menschen ist eines der ersten Dinge, die den Akt des Geschichtenerzählens ins Leben rufen.«

      Durch Geschichten verleihen wir der Welt Gestalt, um sie zu verstehen – und historisch gesehen haben wir durch Geschichten den Unterschieden überhaupt erst Gestalt verliehen. Ohne die Hilfe der Wissenschaft beim Verstehen dessen, was nicht in die Reihe passt, ist es nachvollziehbar, dass zuerst Geschichten diese Funktion erfüllten. Ich bin drei Jahre alt, als meine Eltern mich in ein Krankenhaus in London, Ontario, zum CT-Scan bringen. Ich habe kaum Erinnerungen daran – vielleicht erinnere ich mich an das Gefühl des Eingeschlossenseins in der riesigen, surrenden Maschine, doch da in den darauffolgenden Jahren noch weitere CT-Scans von mir gemacht werden sollten, erinnere ich mich wahrscheinlich eher an diese. Es sind meine Eltern, die die Erinnerungen bewahren: die fast zwei Stunden dauernde Fahrt in die andere Stadt, wie sie die Angst beschleicht, als sie im Auto sitzen, wie sie immer wieder versuchen, ein Gespräch anzufangen. Vielleicht bin ich unterwegs eingeschlafen – es ist sogar wahrscheinlich. Ich schlafe immer noch in Autos ein, so viele Jahre später.

      Ich bin drei Jahre alt und spiele auf dem Fußboden, als die Neurologin meine Mutter aufruft, um ihr die Befunde mitzuteilen. Dort, wo Teile meines Gehirns sein sollten, ist ein leerer Raum, erklärt sie ihr. Die Scans zeigen einen dunklen Fleck im Zentrum meines Großhirns, eingebettet zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte.

      »Dort sollte eigentlich Gehirnmasse sein«, sagt die Neurologin, »aber da ist nichts.«

      Meine Mutter fängt an zu weinen. Ich greife nach ihr, bin verwirrt.

      Aber sie weiß doch, wer ich bin, denkt meine Mutter. Sie sieht gar nicht aus, als hätte sie kein Gehirn. Was soll das alles bedeuten?

      Die Neurologin empfiehlt eine Operation und verweist uns an einen anderen Arzt. Wir gehen zum Beratungsgespräch. Meine Eltern mögen ihn nicht.

      »Er war ein junger Arzt«, erzählt mir meine Mutter heute. »Man merkte, dass er überhaupt nicht wusste, was zu tun war, dass er nur Vermutungen anstellte.« In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an ihre Cousine, die als Krankenschwester in der Kardiologie arbeitet. Die Cousine hört sich um und liefert meinen Eltern einen Namen: Dr. Humphreys vom Kinderkrankenhaus in Toronto. Dieses Krankenhaus liegt wieder eine Stunde von meiner Heimatstadt entfernt, in der entgegengesetzten Richtung.

      Wenn der Arzt es von ihnen verlangt hätte, wären meine Eltern in den Wald gegangen und hätten einen Haselzweig gesucht, sie hätten ihn vor unserer Haustür eingepflanzt und auf Regen gewartet. Sie hätten ein gemästetes Kalb geschlachtet und sein Blut um die Tür versprengt, oder mich zu einer Waldhexe gebracht und sie um einen Zaubertrank gebeten, den sie in mein Essen gemischt hätten. Sie hätten einen alten Mann vor ihrer Haustür angetroffen, von dem sie instinktiv wüssten, dass er der (verkleidete) Teufel ist, und hätten ihm die Reichtümer ihres Hauses und ihrer Ländereien als Gegenleistung für meine Gesundung versprochen. Sie hätten alles getan, sie würden alles tun für die Sicherheit und Unversehrtheit ihrer kleinen Tochter. Sie können sich nicht vorstellen, wie das Leben sonst sein soll.

      Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben, sagt Joan Didion.

      Sie fahren mit mir ins Krankenhaus, sie falten die Hände und beten.

      Anders als Legenden und Mythen gelten Märchen im Allgemeinen nicht als auf irgendeiner historischen Wahrheit beruhend. Ihr oberster Zweck ist meist moralischer Natur: Märchen sollen uns etwas lehren, uns etwas über einen Teil der Welt erzählen, der in irgendeiner Weise missverstanden wurde. In den deutschen Märchen (Diminutiv von mittelhochdeutsch mære, aus dem Althochdeutschen māren: verkünden, rühmen), dem Äquivalent des englischen fairy tale (»Feenerzählung«) spielen Feen nur selten eine Rolle, jedoch enthalten sie allesamt Elemente des Wundersamen: Gänsemägde, die zu Prinzessinnen werden, drachentötende Helden, Königinnen, die zur Magie greifen, um ein Kind zu bekommen.

      In Europa nahm das Genre als literarische Form während der Renaissance Gestalt an. Autoren wie Giovanni Francesco Straparola (Le piacevoli notti; Ergötzliche Nächte) und Giambattista Basile (Il Pentamerone; Pentameron) die darin enthaltene Erzählung ›Sonne, Mond und Thalia‹ ist die erste schriftliche Version von ›Dornröschen‹) bereiteten den Boden für die nachfolgenden Erzählungen von Charles Perrault (Frankreich) und die Sammlungen der Brüder Grimm.

      Im siebzehnten Jahrhundert, als Madame d’Aulnoy in Frankreich ihre Märchen zu schreiben begann, wurde das Kunstmärchen zum beliebten Zeitvertreib adeliger Damen, die diese in ihren verschiedenen Salons erzählten und verbreiteten. Hier lässt sich die Auswirkung sozialer und kultureller Veränderungen auf die Geschichten beobachten: Ihr Schwerpunkt verlagerte sich hin zur Betonung bestimmter Vorstellungen von Moral und Etikette, wobei die Märchen stets mit großem rednerischen Elan erzählt wurden, der wiederum Form und Struktur der literarischen Sprache und des literarischen Stils zu beeinflussen begann.

      Die gesammelten Märchen der Brüder Grimm, die in Deutschland als Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht wurden und wahrscheinlich das bekannteste Beispiel europäischer mündlich tradierter und in schriftlicher Form zusammengetragener Märchen darstellen, waren zunächst ein Versuch, diesem hochgestimmten »literarischen« Stil entgegenzuwirken. Die Brüder Grimm wollten die den deutschen Volkssagen und -erzählungen innewohnende – wie sie es nannten – »Naturpoesie« erhalten, die sie in ihrer ursprünglichen Form bei den bäuerlichen Schichten bewahrt glaubten und die zu verschwinden drohte, indem die Welt sich allmählich literarischen Formen in Büchern und anderen Veröffentlichungen zuwandte. In den Einleitungen der ersten Ausgaben der Märchen priesen die Grimms den »robusten« und »gesunden« Charakter derjenigen, deren Märchen sie gesammelt hatten – Eigenschaften, die sie als maßgeblich für das Geschichtenerzählen betrachteten. So wie Industrialisierung und Verstädterung bäuerliche Lebensformen in Deutschland zunehmend verdrängten, sahen die Brüder Grimm im Aufkommen einer literarischen Kultur eine Bedrohung für die Traditionen des Erzählens, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatten.

      »Es besteht also eine Parallele«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Ann Schmiesing, »zwischen der Prekarität des menschlichen Seins und der Prekarität des mündlich überlieferten Märchens […]. Das Märchen kann nicht überleben, wenn es nicht weitererzählt und gehört bzw. aufgeschrieben und gelesen wird.«

      Eine große Ironie hierbei ist jedoch, dass Wilhelm und Jacob Grimm eine beträchtliche Anzahl ihrer Märchen in Wirklichkeit von adeligen Damen und nicht von Angehörigen der bäuerlichen Schicht gesammelt haben. Im Nachwort zur Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen (im Folgenden abgekürzt als KHM) lobt Jacob Grimm insbesondere die Erzählkunst einer gewissen Dorothea Viehmann, die »noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt, […] hell und scharf aus den Augen [blickt]. […] Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis, welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehen sei.« Tatsächlich gehörte Viehmann jedoch zur Mittelschicht – sie war die Tochter eines Gasthofbesitzers, die ihre zahlreichen Kinder alleine großziehen musste. Sie verstarb nach dem Erscheinen

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