Entstellt. Amanda Leduc

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Entstellt - Amanda Leduc

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verlängerten Sehnen ändern nur wenig daran; mein rechter Fuß ist unförmig und vernarbt. Ich muss Spezialschuhe tragen, der rechte Schuh ist größer als der linke. Es fällt kaum auf, wenn überhaupt, aber sogar mit meinen fünf oder sechs Jahren ist es das Einzige, was ich sehe.

      In fast allen Märchen kommt irgendeine Art von Aufgabe vor. Diese kann entweder physischer Art sein – wie im Grimm-Märchen ›Die beiden Wanderer‹, wo ein Schneider eine Reihe von Aufgaben lösen muss, bevor er die Königstochter zur Frau erhält, oder auch spiritueller – wie bei Grimms ›Das Mädchen ohne Hände‹, in dem die Titelfigur mit abgetrennten Händen und auf den Rücken gebundenen Armen alleine durch den Wald irrt. Die Menschen werden in die Welt hinausgeschickt, um etwas zu lernen, um eine Reihe von Aufgaben zu meistern, eine Reihe von Gegenständen zu sammeln, um ihre Kämpfe zu bestehen und am Ende siegreich zurückzukehren. Tu dies, tu jenes, dann wird alles gut.

      In dem norwegischen Märchen ›Östlich von der Sonne und westlich vom Mond‹ muss die Heldin zu einem Schloss reisen, um ihren zukünftigen Ehemann aus den Händen einer Trollprinzessin zu befreien. In Hans Christian Andersens ›Die kleine Meerjungfrau‹ soll die Meerjungfrau ihren geliebten Prinzen töten, um ihre Stimme wiederzuerlangen und ins Meer zurückzukehren.

      Aufgaben gibt es in der Literatur und in mündlichen Überlieferungen seit Gilgamesch und in Kulturen weltweit. In einem westafrikanischen Märchen muss die Spinne Anansi eine Reise unternehmen, um den Python Onini, den Leoparden Osebo und die Mboro-Hornissen zurückzuholen, damit der Himmelsgott Nyame der Welt ihre Geschichten zurückgibt.

      Anansi fängt die Tiere ein und befreit die Geschichten, der Schneider löst die Aufgaben und heiratet die Prinzessin, das Mädchen ohne Hände erhält Hilfe von wohlmeinenden Fremden, und zur Belohnung für ihren guten Glauben wachsen ihre Hände nach. Jede Aufgabe in jedem Märchen kommt zu irgendeinem Abschluss. Selbst die kleine Meerjungfrau, die sich am Ende von Andersens Märchen das Leben nimmt, erhält das Versprechen auf ein ewiges Happy End im Himmel.

      Ich bin das Happy End, das meine Eltern sich erhofft hatten, und gleichzeitig bin ich es für mich selbst irgendwie auch nicht. Dass ich überlebt habe, ist der bestmögliche Verlauf – die triumphale Heimkehr, die Belohnung für tadellos gemeisterte Aufgaben. Meine Eltern haben auf die Ärzt*innen und Gurus gehört, sie haben so viele Ratschläge von weisen Männern und Frauen eingeholt, wie sie nur konnten. Mein Schädel wurde geöffnet und die missliebigen Teile wurden entfernt, ein Prozess, der vollkommen wissenschaftlich und zugleich vollkommen magisch ist. Erst ist alles beängstigend, und dann ist alles gut. Doch die Wirklichkeit dieses neuen Lebens nach der Operation, das ist eine ganz andere Geschichte.

      Das Leben ist immer anders als die Happy Ends, die wir aus Märchen in Büchern und Filmen kennen. Obwohl wir das natürlich wissen, beruhen viele Annahmen und Vorurteile in unserer heutigen westlichen Kultur auf diesen uralten Geschichten.

      Als Heranwachsende wusste ich, dass mein Leben als das eines behinderten Kindes ebenso wertvoll ist wie jedes andere. Was ich allerdings nicht wusste – und manchmal bis heute nicht weiß –, war, wie ich mich körperlich in diesen »wertvollen« Raum einfügen sollte. Ich war im Tanzunterricht nicht anmutig, obwohl ich es wollte, ich schritt nicht selbstbewusst durch die Schulkorridore. Ich hinkte. Ich trug peinliche, kastenförmige Schuhe. Die Prinzessinnen aus den Märchen, die ich in der Schule und zu Hause las, wurden nicht mit orthopädischen Einlagen und Physiotherapie traktiert. Sie mussten nicht jedes Jahr zur Kontrolle ins Krankenhaus nach Toronto, wo ein Arzt ihre missgebildeten Füße untersuchte und ihre Glieder vermaß.

      Prinzessinnen wurden nicht in der Schule ausgelacht, weil sie so komisch laufen. Prinzessinnen gab man nicht den Spottnamen Pickle, weil du läufst, als hättest du eine saure Gurke im Arsch! (Außer dass es, zu meiner viel späteren Überraschung, manchmal doch so war: Aschenputtel erhielt ihren Namen von ihrer Stiefmutter und den Stiefschwestern, die unsere Heldin auslachten und schikanierten, weil ihre Haare und Kleider von der Arbeit als Küchenmagd oft mit Asche beschmutzt waren.)

      Die Prinzessinnen, die ich kannte, waren anmutig und schön und konnten traumhaft tanzen. Objektiv gesehen wusste ich zwar, dass sie nicht echt sind, aber wie sollte ich gegen mein aufwallendes Herz ankommen, wenn Auroras Kleid die Farbe wechselte, von blau nach rosa und wieder zurück?

      Wie sollte ich gegen die so offensichtlich normgerechte Schönheit von Disneys Belle oder Cinderella ankommen oder gegen die Unausweichlichkeit, mit der der Erzählbogen so vieler Märchen sich am Ende zur romantischen Liebe neigt? Wie sollte ich all das vereinbaren mit meinem Selbstverständnis als jemand, die nie auf genau diese Weise schön sein würde? Wichtiger noch – wie sollte ich begreifen, dass es nicht darauf ankommt, auf genau diese Weise schön zu sein? Wie umgehen mit der unvermeidbaren Abweichung des Lebens vom traditionellen Erzählbogen mit Happy End, wenn ich überall von diesen Happy Ends umgeben war – in Märchen, in den Medien, in anderen Geschichten, die ich las und liebte? Wie sollte ich erkennen, dass nicht die Abweichung des Lebens von diesem Erzählbogen das Problem ist, sondern die Etablierung dieses Bogens – diese normierten Körperideale und Erwartungen?

      Und wie sollte ich mit dem Widerspruch zwischen dem nichtbehinderten und dem behinderten Erzählbogen umgehen, wenn Behinderung in diesen Happy Ends überhaupt nicht vorkommt?

      Zerebral. Aus dem Lateinischen cerebrum, Gehirn. Im medizinischen Sinn bezogen auf den Bereich des Gehirns in und um die Hirnrinde sowie die Verbindungen, die von dort aus zum Kleinhirn verlaufen.

      Parese. Aus dem Griechischen parésis, Erschlaffung, unvollständige Lähmung.

      Zusammengenommen bilden die beiden Worte einen Überbegriff für eine Reihe von Diagnosen, bei denen die Bewegung eingeschränkt, bedingt oder unmöglich ist.

      Andere Verwendungen von zerebral: das Gehirn betreffend, geistig, intellektuell. Im Englischen (cerebral) auch: unter Einbeziehung des Verstands statt emotional/instinktiv.

      Parese (Substantiv): vollständige oder teilweise Muskellähmung, oft begleitet von Sensibilitätsverlust, unkontrollierten Bewegungen oder Tremor.

      Verb: paralysieren, zu einer Paralyse führen, lähmen, handlungsunfähig/hilflos machen, etwa vor Angst.

      Dr. Humphreys’ Konsultationsberichte aus dem Jahr 1986 an unsere Hausärztin sind medizinisch-sachlich und zugleich warmherzig. Das Kind wurde nach einer vollständig ausgetragenen, normal verlaufenen Schwangerschaft und unkomplizierten Entbindung geboren und wog 3800 Gramm. Die weitere Entwicklung des Kindes verlief relativ unauffällig. Im Alter von etwa sechs Monaten fiel den Eltern auf, dass Amandas rechte Zehen »sich nicht entspannen, sondern gekrümmt bleiben«. Sie lernte anschließend nur langsam laufen und machte erst im Alter von siebzehn Monaten sichere, eigenständige Schritte. Dabei blieb jedoch das Gleichgewicht instabil und der Fuß neigte zur Einwärtsdrehung.

      Er ist auf jeden Fall ein Geschichtenerzähler.

      Mit der Zeit und mit fortschreitender Mobilität gewöhnte sie sich an, beim Gehen das rechte Bein im Kreis zu schwingen. Sie ist nie impulsiv gerannt. Da die Ganganomalie weiterhin bestand, wurde nach möglichen Störungen im rechten Unterarm und in der rechten Hand gesucht. Hier gab es kaum Auffälligkeiten, auch nicht in Bezug auf eine leichte Spastik im Arm. Jedoch entwickelte sie sich aus irgendeinem Grund zur Linkshänderin.

      (Es war einmal eine Zeit, da dachte man, dass Linkshändigkeit vom Teufel komme. Matthäus 25:41: »Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!« Die linke Seite galt als Merkmal alles Minderwertigen und Falschen: Eva, die aus Adams linker Rippe entstand, Frauen im Allgemeinen, von denen man glaubte, sie würden beim Geschlechtsakt aus dem linken Hoden

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